o1 // Zwischen Zwei Welten

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Briefe hatten die verheerende Eigenschaft eines eigenen Gewichtes, das vollkommen unabhängig von jeglichem physikalischen Maß zu existieren vermochte.

Wenn es hoch herkam, so wog ein Papierumschlag kaum mehr als ein Quäntchen – und selbst wenn es sich der Absender zur Aufgabe gemacht hätte, noch so viele belanglose Dokumente in den Umschlag zu zwängen, so war kein Gewicht der Welt mit dem zu bemessen, was am Morgen des fünfzehnten Augustes auf Morag MacDougals Türschwelle lag.

Obwohl es nichts weiter als ein vergilbter Pergamentumschlag war, so prangten die geschwungenen Lettern ihres Namens in solch einer mühelosen Selbstverständlichkeit auf dem Brief, dass Morag der Gedanke einer Fehlzustellung nicht einmal kam, als ihr das altertümliche Siegelwachs auf der Vorderseite des Umschlags ins Auge fiel. Der einzige Wert, den Morag in diesem wächsernen Umstand zu sehen vermochte, war, dass es ein schwerer Klumpen Wachses war, dessen Beitrag das Gewicht des Briefes weiter hochschraubte. Sie war versucht das Siegel herunterzuziehen, um es separat in ihrer Hand zu halten – einzig und allein abschätzen zu können, zu welchem Prozentsatz es zum Gewicht des schweren Umschlages beitrug (denn Morag war in einer gar obsessiven Art von Zahlen fasziniert; und ganz besonders dann, wenn es darum ging, eine zu erraten). Erst dann kam ihr der Gedanke, wie wohl der Briefträger auf so einen unkonventionellen Klumpen Wachs auf einem seiner Zustellungsstücke reagiert haben mochte – bis sie bemerkte, dass der Umschlag keine Marke trug.

Eilig begann sie, ihn in seiner Gänze nach Marken abzutasten, deren absoluter Mangel gar so unkonformistisch war. Jetzt, erst durch die Erkenntnis, dass auf eine Briefmarke vollends verzichtet worden war (allgemein fiel ihr plötzlich auf, dass die Adressierung ungewöhnlich vonstattengegangen war) wurde irgendetwas Tiefes in ihr wachgerüttelt – und mit einem Mal schien dieser gelbliche Umschlag in Morags Hand ein reißendes Pfund zu wiegen. Hatte ihn am Ende jemand auf ihre Türschwelle gelegt? Oder war es einer dieser Briefe, die ihre Mutter ab und an bekam, ehe sie in ihrem Schlafzimmer verschwand und damit der markenlose Brief aus Morags Kopf. Begierig riss sie den Umschlag auf und zerrte zwei Bögen schweren und edlen Pergaments heraus. Im Hinterkopf vermochte sie es noch, den nun leeren Umschlag auf eine halbe Unze und jeden der Bögen auf das doppelte zu schätzen, aber primär beschäftigte sich ihr Verstand mit den Buchstaben vor ihren Augen und versuchten einen Sinn daraus zu ziehen, was ihr da in feinen Lettern dargeboten lag.

Erst, als Morags Augen über die schmalen Zeilen des Briefes huschten und ein gewisses Verständnis für sie sich einpendelte; erst dann wurde sie sich des vollen und drückenden Gewichts dieses Umschlags auf ihrem Fußabstreifer bewusst.


Als Morag am Morgen des ersten Septembers schließlich durch die magische Barriere zum Gleis 9¾ trat, so hätte keine noch so bildliche Erzählung oder pittoreske Beschreibung sie auf den Anblick vorbereiten können, der sich ihr auf der anderen Seite darbot.

Für den Bruchteil einer Sekunde war sie sich sicher, versehentlich in ein Kriegsgebiet gestolpert zu sein, so ohrenbetäubend laut hallte das Gekreische und Geschrei hunderter Münder an den hohen Wänden des Gleises wieder und vervielfachte sich zu einem stetigen Fluss kakophonischen Lärmes. Eine alte Dame – es widerstrebte Morag, Menschen in Zauberer und Muggle zu differenzieren – schob sich durch ihr Sichtfeld, sodass die farbliche Überladung des Gleises für einen Moment von der Eintönigkeit ihres fliederfarbenen Umhangs verschluckt wurde. 

Morags Mutter, die wenige Sekunden nach ihr durch die Absperrung getreten war, legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Suchen wir Lee!", rief sie Margot ins Ohr, und sie verzog unwillkürlich das Gesicht. Langsam setzte sie sich in Bewegung und schob sich durch die Menge. Sie musste aufpassen, nicht auf eine kleine, hässliche Kröte zu treten, die versuchte zwischen ihren Beinen hindurch eine dramatische Flucht aus dem Gleis hinzulegen und so stolperte sie fast über ihre eigenen Füße in dem verzweifelten Versuch, das Tier nicht zu zertrampeln. Es hüpfte munter an ihr vorbei und Morag schüttelte nur den Kopf, während sie den Hals reckte, um zwischen den unzähligen Köpfen den Lees auszumachen. 

Magical Contest 2018Where stories live. Discover now