Kapitel Siebenunddreißig, Alecia

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" ... und ich wollte einfach nur verhindern, dass Leute sterben."

Darragh sah mich ernst an. "Du kannst nicht verhindern, dass Leute sterben. Das hier ist eine Rebellion. Ich dachte, das wusstest du von Anfang an."

"Ja." Ich vergrub das Gesicht in den Händen, als eine neue Welle von Schmerz in mir aufwallte. Es war als würde mein Inneres in Stücke gerissen, langsam und qualvoll. "Aber theoretisch zu wissen, dass Menschen sterben könnten, ist etwas ganz anderes als wenn es tatsächlich passiert."

Als Darragh nichts sagte, fügte ich tonlos hinzu: "Und nun habe ich alles nur noch schlimmer gemacht."

Er verneinte es nicht. Ich wusste nicht einmal, ob ich darauf gehofft hatte, denn wie unrealistisch das war, wurde mir in diesem Moment selbst bewusst. Natürlich verneinte er es nicht. Natürlich hatte ich alles nur noch schlimmer gemacht.

Stattdessen sagte er etwas viel Besseres.

"Es sieht gut aus für die da draußen. Bisher halten sich die Tode gering. Ein großer Teil der Wächter scheint auf unserer Seite zu sein."

Ich hob den Kopf und sah zum Bildschirm, auf dem die Rebellen in den anderen Teilen der Stadt zu sehen waren; die Überwachungskameras sendeten noch immer. Das war mit Niall so abgesprochen gewesen, dass er sie da einklinken würde, fiel es mir  wieder ein. Niall. Ob er wohl noch am Leben war?

Im selben Moment sah ich ihn in einer großen Menschengruppe. Ich erkannte einige Uniformen von Wächtern, aber auch eine Menge Passanten. Und Rebellen. Unsere Leute. Sie tanzten, am Leben. In anderen Stadtteilen das Gleiche. "Wie kann das sein?", entfuhr es mir.

Darragh zuckte mit den Schultern. "Vielleicht waren die Wächter auch nicht sehr zufrieden mit der Regierung und dem Musikverbot."

Ich sah weiter auf den Bildschirm; ich konzentrierte mich auf die tanzenden Menschenansammlungen, um nicht auf die restlichen Teile des Bildschirms schauen zu müssen. Zwischen den Bildern des Erfolgs waren immer wieder Menschen zu sehen, die tot am Boden lagen. Blutspritzer auf dem Asphalt. Flüchtende Passanten. Schießende Wächter. Lautsprecher, die kurz und klein geschlagen wurden. 

Aber wenig überraschend gelang es mir nicht. Mein Mageninhalt bahnte sich einen Weg nach oben und ich übergab mich auf Darraghs Teppich. Dem Ganzen folgten ein neuer Schwall von Tränen und ein erstickter Schrei. 

Was hatte ich mir dabei nur gedacht?

Alles meine Schuld.

Ich war so dumm.

"Alecia", sagte Darragh leise. "Sie werden es schaffen."

"Sie werden es schaffen!", fuhr ich ihn an, obwohl ich eigentlich auf mich selbst wütend war. "Wer wird es schaffen? Diese Leute da, die tot am Boden liegen? Die bestimmt nicht!"

"Nein. Die Rebellen werden es schaffen. Wir werden Erfolg haben. Es sieht gut aus für uns."

"Es ist mir egal! Die Rebellion ist mir egal! Ich will nur nicht, dass noch mehr Leute sterben! Es ist mir egal, ob sie es schaffen!"

"Ihnen ist es aber nicht egal. Erinner dich an C. Du hast vielen Leuten etwas gegeben, für das sie kämpfen wollen. Für das sie sogar zu sterben bereit sind. Es war ihre Entscheidung. Sie wussten, dass das passieren konnte."

"Aber ohne mich wäre es nie passiert!"

Darragh seufzte. "Ja. Aber es ist passiert."

"Können wir nichts tun? Ich will irgendetwas tun", schluchzte ich. "Und wenn ich dabei draufgehe."

"Wir können nur warten. Wir können nur hoffen, dass die Musik stark genug ist", erwiderte er. "Soll ich dir noch einen Tee machen?"

"Nein", stieß ich bitter hervor. Ich wollte keinen Tee. Ich wollte meine Freunde und meine Schwestern. Am Leben. 

Ob Mom auch bereute, was sie getan hatte?

Ich konnte ihr nicht die Schuld an allem geben. Ohne mich hätte es schließlich nie eine Rebellion gegeben. Ohne mich wären diese Menschen nicht gestorben. Ohne mich wären die Handlungen meiner Mutter gar nicht ausgelöst worden. 

Ohne mich. 

"Ich will da hoch", sagte ich zu Darragh. "Zu Maven und Seo. Zeig mir, wo die Treppe ist."

Mit zitternden Beinen stand ich auf. Darragh zögerte, tat aber, worum ich ihn gebeten hatte. Kurz darauf stieg ich die Treppe aufs Dach hoch. Mit jedem Schritt wurde die Musik lauter. Seo hatte wieder ihren Sprechgesang angestimmt und die Leute um das Haus herum sangen jede Zeile aus vollem Hals mit, wie es klang. Sie waren beinahe am Ende angekommen.

Kaum war ich oben, traf Mavens Blick meinen. Er lächelte nicht. "Was machst du hier?"

"Ich wollte euch helfen. Ist es zu spät, die Rede zu halten?"

Maven lachte auf und ich konnte nicht einschätzen, ob er wütend war oder es wirklich lustig fand. "Viel zu spät. Ich habe irgendetwas gestammelt."

"Aber wir können eine zweite Rede halten!"

Er überlegte.

"Ich rede. Du musst nur daneben stehen und ... meine Hand halten."

"Deine Hand halten?"

"Ich wollte es dir nicht sagen, weil ich wusste, dass du nicht einwilligen würdest, aber ... jede Rebellion braucht dieses eine Paar, das an ihrer Spitze steht. Diese zwei Menschen, die gemeinsam für ihre Überzeugungen kämpfen, aber für die der jeweils andere noch viel wichtiger ist als die Zukunft der Stadt. Das berührt die Leute."

"Das berührt die Leute?", wiederholte er ungläubig. "Wenn wir einen anderen Menschen über die Rebellion stellen?"

"Ja! Komm jetzt!" 

Das Lied war vorüber. Ich ergriff Mavens Hand und zog ihn nach vorne zur Kante des Dachs. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er Seo ein Zeichen gab. Offensichtlich sollte sie nicht mehr weitermachen. 

Ich zwang mich zu einem Lächeln, obwohl ich immer noch den Geschmack meines Erbrochenen im Mund hatte und mich beherrschen musste, damit mir nicht wieder die Tränen kamen. Eine riesige Menschenmenge befand sich unter mir, sah zu uns hoch. Neugierig. Erwartend. 

Ich hatte nie Probleme damit gehabt, vor Publikum zu sprechen, aber nun drohten meine Beine, unter mir nachzugeben. Angst machte sich in mir breit, Angst, es wieder zu vermasseln. Fast wollte ich einfach vom Dach springen und all dem hier ein Ende setzen. Den Weg wählen, den C gewählt hatte.

C. 

Ich musste das hier tun, dachte ich. Für C. 

Und ich begann, zu sprechen. 

"Mein Name ist Alecia. Und wir befinden uns inmitten einer Rebellion."

Ich verschränkte meine Finger mit Mavens und hielt unsere Hände hoch, eine epische Geste, wie ich schon in Büchern davon gelesen hatte.

"Maven und ich, wir lieben uns. Und wir lieben euch. Wir lieben diese Stadt. Und wir lassen uns das nicht mehr bieten!"

"Schön", sagte Maven zu mir. Mit seiner freien Hand griff er nach etwas, was Seo ihm reichte - ein Mikrofon. "Ich fürchte einfach, sie konnten es nicht hören." 

Ich ergriff das Mikrofon, das er mir hinhielt, und begann erneut. Dieses Mal dröhnte meine Stimme über den Platz. "Mein Name ist Alecia. Und wir befinden uns inmitten einer Rebellion. Maven und ich, wir lieben uns. und wir lieben euch. Wir lieben diese Stadt. Und wir lassen uns das nicht mehr bieten!"


DANCE oder wie man mit einer Rebellion beginntWo Geschichten leben. Entdecke jetzt