Zwei Monate würde ich ihn nun nicht sehen. Der Gedanke überkam mich, als ich ihn durch einen Schlitz in der Zeltplane beim Turnen beobachtete. Er schwebte rund zwei Meter über dem Boden, vollführte Tricks an seinem Trapez und brachte das Publikum damit zum Staunen. Er war ehrgeizig. Nur so gelang ihm die perfekte Körperbeherrschung, die er für die Auftritte seines Familienzirkusses brauchte. Die Show war sein Leben. Und er war meins.
Als er seine Vorstellung zuende war, joggte der Dunkelhaarige auf den Ausgang zu, hinter dem ich mich befand. Als er mich entdeckte, erkannte ich wieder einmal das Aufleuchten seiner gesprenkelten Augen. Mit zwei langen Schritten war er bei mir, nahm mein Gesicht in seine Hände. Er küsste mich voller Energie, hungrig nach meiner Zuneigung sehnend. Ich musste grinsen. Mein Freund hatte unsere Finger miteinander verschränkt und ich löste sie wieder, um mit meinen Händen an seinen Armen hinauffahren zu können. Seine Muskeln fühlten sich stählern vom vielen Training an. Manchmal hatte ich das Gefühl, ich müsste ihn mit dem Publikum teilen. Doch dann fuhr ich mit meinem Daumen unter den Saum seines Ärmels und wusste, dass diesen Teil von ihm niemand zu Gesicht bekommen würde. Niemand außer mir. Wir waren Seelenverwandte.
Er löste seine Lippen von meinen. „'Tschuldingung, dass ich dich so überfalle. Ich bin total aufgekratzt", flüstert er in mein Ohr, sodass ich seinen heißen Atem spüren konnte. Ich nahm seinen Kopf und legte meine Stirn an seine, um ihn zu beruhigen. Ich würde mich bei der lauten Musik und den vielen Leuten nie so gut konzentrieren können wie er, wenn er dort draußen seine Show ablegte.
Seine kleine Schwester, die auch hinter der Bühne stand, tippte ihn an. „Ich unterbreche euch ja nur ungern, aber..." Der Junge hob seinen Kopf und entfernt sich von mir. „Stimmt", meinte er und warf sich die Jacke über, die er für den nächsten Act brauchte. Der eine Kuss hatte mir nicht gereicht. Ich wollte mehr von ihm. Vielleicht später, bei einem Glas Wein, um die gelungene Show zu feiern. Denn in ein paar Tagen startete ihre alljährliche Tour. Ich sah ihm zu, wie er auf einem Seil balancierte und vermisste ihn jetzt schön fürchterlich. Ich wusste, dass auch er das tun würde. Aber The Show Must Go On.
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A Prompt
Short StoryKennst du das, wenn du etwas erlebst, von dem dir Stunden später noch ein Kopfkino bleibt? Wenn dir Dinge in den Kopf kommen, die so nie passiert sind? Egal ob ja oder nein, jedenfalls bist du hier richtig! Dieses Buch handelt nämlich davon. Von Fan...