Pünktlich um sechs beendete Dr. Mavericks die heutige Vorlesung. Erleichtert, dass ich nicht zu den wenigen Studenten gehörte, die er im Anschluss zu sich ans Pult rief, um ihre Versäumnis der Deadline für unsere Hausarbeit zu besprechen, erhob ich mich von meinem Platz und streckte meinen steifen Rücken.
Die Einweihung des neu erbauten Wohnheimbereichs musste bereits in vollem Gange sein und der Gedanke daran ließ einen Knoten in meinem Magen entstehen. Nur zu gut konnte ich mir vorstellen, wie Alba gerade sehnsüchtig aus ihrem Fenster auf das parallel gegenüber liegende Gebäude schaute und sich fragte, ob sie wohl die Erfahrungen, auf die sie in ihrer Schulzeit hatte verzichten müssen, jemals nachholen würde.
Wie erwartet drang leise Musik aus dem von der Absperrung befreiten Bereich und wurde vom Wind in meine Richtung getragen. Durch die Fenster konnte ich meine Kommilitonen sehen, die in das neue Gebäude umgesiedelt waren und gerade mit Sekt anstießen.
Immer weniger konnte ich die Schuldgefühle abschütteln, die unablässig an mir zerrten und mich daran erinnerten, dass ich schuld daran war, dass Alba sich zurückhielt und auf ihren Wunsch verzichtete. Alles, was sie wollte, war sich nur ein einziges Mal zugehörig zu fühlen und ihre Schüchternheit abzulegen.
Obwohl ich ihre Unaufdringlichkeit und Zurückhaltung sehr an ihr schätzte und ich mich eben wegen dieser Eigenschaften so gut mit ihr verstand, wollte ich nicht dafür verantwortlich sein, dass sie das Gefühl hatte, etwas zu verpassen und ausgeschlossen zu werden.
Dieses Gefühl kannte sie zu genüge und da ich wusste, dass sie genauso wie ich keine weitere Bezugsperson auf dem Campus hatte, war mir auch bewusst, dass ich eine gewisse Verantwortung ihr gegenüber hatte. Es gehörte nun mal zu den Aufgaben einer Freundin, auch mal die eigenen Interessen und Ängste außen vor zu lassen, um der anderen Person zur Seite zu stehen.
Als ich vor meiner Zimmertür angekommen war, stand mein Beschluss fest: Ich würde auf diese blöde Einweihungsfeier gehen.
Es überraschte mich nicht, dass ich Cleo vor ihrem Schminktisch sitzen und sich die Augen mit Wimperntusche verkleben sah, als ich unser nur durch die kleine Schreibtischlampe meiner Mitbewohnerin beleuchtetes Zimmer betrat.
"Du gehst wohl auch zu dieser bescheuerten Einweihungsfeier, was?", fragte ich beiläufig und warf meinen Rucksack rücksichtslos auf mein Bett.
Cleo hielt in ihrer Bewegung inne und sah mich durch den Spiegel hinweg an. "Sag bloß du gehst da auch hin", meinte sie ungläubig, ehe sie sich wieder ihrem Make-Up widmete.
Ich zuckte die Schultern. "Ich schätze schon. Sag mal, du kennst dich doch gut mit Styling aus?"
Cleo hielt erneut inne und drehte sich schließlich mit einem begeisterten Grinsen zu mir um. "Ich wusste der Tag würde kommen! Wo soll ich nur anfangen? Mit dem Outfit oder doch lieber diesem Wischmopp, den du als deine Haare bezeichnest..." Gedankenverloren tippte sich Cleo mit dem Zeigefinger ans Kinn.
Ich verdrehte die Augen. Bereits an meinem ersten Tag - meine Haare waren damals noch ziemlich kurz gewesen – hatte mich Cleo als ihr Wohltätigkeitsprojekt auserkoren und tagelang versucht mich zu einem Umstyling zu überreden.
Da ich zu dieser Zeit vollkommen in mich gekehrt gewesen war, hatte ich sie so lange zurückgewiesen, bis sie aufgegeben hatte.
"Es geht aber nicht um mich", riss ich Cleo aus ihren Wunschvorstellungen und ließ mich auf mein Bett fallen. Ein wenig enttäuscht drehte mir meine Mitbewohnerin den Rücken zu, um ihr Werk zu vollenden. "Um wen dann?"
"Du kennst doch meine Freundin Alba..." Ich spielte mit den Bändeln meines Kapuzenpullovers während ich Cleo dabei zusah, wie sie ihre Lippen seelenruhig mit einem Lipliner umrahmte. "Die paranoide graue Maus mit der überdimensionalen Brille? Flüchtig."
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Soul Wanderer
RomanceSuri ist ein Wrack. Eineinhalb Jahre nach dem Vorfall, der ihr Leben unwiderruflich veränderte, kann sie noch immer kein normales Leben führen. Nichts scheint sich zu bessern, bis sie einen mysteriösen Jungen kennenlernt, der sie auf eine tiefe Art...