Kapitel 5

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Am nächsten Morgen wachte ich durch die ungewöhnlich warmen Sonnenstrahlen auf, die mir durch den schmalen Schlitz zwischen Cleos mit Koltern improvisierten Vorhängen direkt ins Gesicht schienen.

Leise seufzend setzte ich mich auf und blickte mich verschlafen um. Die Digitalanzeige meines Weckers verkündete, dass es kurz nach Sieben war und ich entschied, schon jetzt aufzustehen und frühstücken zu gehen, da die meisten Studenten wegen des gestrigen Abends vermutlich ausschlafen würden.

Die Cafeteria war wie erwartet menschenleer und obwohl ich die Stille sehr genoss, beschloss ich, die warmen Sonnenstrahlen auszunutzen und nach draußen zu gehen. Immerhin würde es bald sehr kalt werden und ich würde eine Weile warten müssen, bis ich wieder unter meinem Lieblingsbaum frühstücken konnte.

Der große Ahornbaum am Rande des Campus, der sich zwischen den vielen kleinen Kugelbäumen, die sich über die Wiese verteilten, hervorhob, hatte bereits den Großteil seiner Blätter verloren. Diese hatten sich im Herbst zu einem wunderschönen, intensiven Rot verfärbt.

Gedankenverloren breitete ich meine Jacke auf dem endlos scheinenden Meer aus Laub aus und ließ mich im Schneidersitz auf ihr nieder. Einen Moment schloss ich die Augen und genoss die angenehme Wärme, die die Sonne auf meiner Haut hinterließ, ehe ich meine Kopfhörer aus meiner Hosentasche kramte und mich von Sonya Belousovas einzigartigen Klavierspiel berieseln ließ.

Die sanfte Melodie erinnerte mich an eine weit in der Vergangenheit zu liegen scheinende Zeit, in der alles noch so einfach und unbeschwert war. Als meine Eltern noch glücklich miteinander waren und ich noch das kleine, lebensfrohe Mädchen war, das für Musik gelebt hatte und alles dafür gegeben hätte, anderen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern.

Nachdem dieser Mann in mein Leben getorkelt war und alles kaputt gemacht hatte, hatte ich nie wieder die Tasten eines Klaviers berührt. Musik war schon immer ein Teil von mir gewesen und dass ich ihr vollständig den Rücken gekehrt hatte, trug vermutlich einen großen Teil dazu bei, dass ich mich so unendlich leer fühlte.

Doch das alte Klavier, auf dem ich immer gespielt hatte, befand sich noch immer in der zugestellten Wohnung meiner Mutter und ich konnte mich einfach nicht überwinden, auf dem Instrument, das meine Mutter ihre Persönlichkeit gekostet hatte, zu spielen.

Die Erinnerungen würden mich wieder heimsuchen und Besitz von mir ergreifen, würden mir ins Gedächtnis rufen, was für ein schrecklicher Mensch ich war und was ich in dieser Wohnung getan hatte. Notwehr hin oder her. Ich hatte die Grenze überschritten und einen Menschen getötet.

Ich verzog den Mund und pausierte das Lied, das ich mir anhörte. Ich konnte mir nicht einmal ein herkömmliches Klavierstück anhören, ohne dass meine Gedanken zudem Vorfall abschweiften.

Betrübt wickelte ich meine Kopfhörer wieder auf, verstaute sie in meiner Tasche und blickte lustlos auf den Apfel hinunter, den ich mir mitgenommen hatte. Mir war der Appetit gehörig vergangen.

Ich seufzte und stand langsam auf, ehe ich widerwillig vom Apfel abbiss. Er war mehlig und ungeheuer süß. Normalerweise hasste ich es, Lebensmittel wegzuschmeißen, immerhin kam ich aus einem sehr bescheidenen Haushalt und wurde so erzogen, alles Essbare wertzuschätzen. Dennoch würde mich nichts dazu bewegen können, diese scheinheilige Frucht zu essen.

Mit schleifenden Schritten schleppte ich mich zum nächsten Mülleimer und feuerte den von außen so schönen Apfel hinein, als eine gewisse Person meine Aufmerksamkeit auf sich zog.

Alex saß auf dem Treppenabsatz der Bibliothek und blätterte gelangweilt in einem dicken Wälzer, während er mit seinen Fingern gegen das steinerne Parkett unter sich trommelte. Er war vollkommen in schwarz gekleidet und ich kam nicht umhin, ihn einen Moment länger als nötig anzustarren. Er war ohne Zweifel ein gutaussehender Mann.

Soul WandererWo Geschichten leben. Entdecke jetzt