Kapitel 6

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Die folgende Woche verlief ereignislos. Ich hatte die meiste Zeit auf dem Campus verbracht und neben der unglaublich stressigen Vorbereitung auf meine Klausur darüber gegrübelt, ob und was ich meiner Mutter und meiner Schwester zu Weihnachten schenken sollte.

Da sich einige Blöcke vom Campus ein Einkaufszentrum befand, würde ich mich im Laufe der nächsten Tage dazu durchdringen müssen, ein paar Geschenke einkaufen zu gehen. Seufzend klappte ich meinen College block zu und schlüpfte in meine Stiefel.

Obwohl es ziemlich stürmisch und kalt war, fühlte ich den Drang, mein Zimmer endlich zu verlassen und nach draußen zu gehen. Außerdem hatte ich noch einige Bücher, die ich zurück in die Bibliothek bringen musste.

Ehe ich nach dem Stapel Bücher griff, die ich mir zurechtgelegt hatte, band ich mir meinen Schal um den Hals und zog meine Winterjacke an. Ich brauchte zwar eine Erfrischung, doch auf eine Erkältung konnte ich verzichten.

Sobald ich das Gebäude verlassen hatte, wirbelte der Wind meine Haare in alle Richtung. Ich zog die Augenbrauen zusammen und strich mir verirrte Strähnen aus dem Gesicht, um wenigstens sehen zu können, wo ich hin ging.

Der Wind schob mich mehr oder weniger in die Richtung der alten Bibliothek und ich genoss den Anblick des aufgewirbelten Laubes, das durch die Lüfte getragen wurde. Mit den Büchern fest an meine Brust gepresst erklomm ich die steinernen Stufen, die zum Eingang führten und stemmte mich mit meinem ganzen Gewicht gegen die schwere Holztür.

Erdrückende Stille umgab mich, als ich den abgedroschen eingerichteten Raum betrat und so gab ich mein Bestes, nicht allzu viel Lärm auf meinem Weg zur Bibliothekarin zumachen.

Judith nahm die Bücher wortlos entgegen und widmete sich wieder ihrem Kreuzworträtsel, während ich mich zu den Tischen begab und meine Jacke über einen der Stühle hing. Wenn ich schon hier war, konnte ich mir auch gleich ein paar neue Lektüren ansehen und ausleihen.

Da ich ohnehin die Einzige in diesem großen Raum zu sein schien, schlenderte ich entspannt zu den riesigen Bücherregalen und wanderte durch sie hindurch. Obwohl es nicht mein Fach war, verlor ich mich ein wenig in der Psychologieabteilung und blieb an einem Buch über posttraumatische Belastungsstörungen hängen.

Mit meinen Fingerspitzen zog ich es am Buchrücken heraus und klappte es vorsichtig auf, als sich plötzlich ein Schatten über den kleingedruckten Buchstaben erhob. Erschrocken klappte ich es wieder zu und drehte mich ruckartig um, nur um festzustellen, dass Alex dicht vor mir stand.

"Na, fischen wir wieder in fremden Gewässern?", fragte er monoton und zeigte auf das Buch, das ich fest umklammert hielt. "Was...oh. Das ist nichts", gab ich leise zurück und blickte eingeschüchtert zu Boden.

"Kommen wir gleich zur Sache", sagte er und stützte sich mit einem Arm an dem Regal hinter mir ab. "Wie viel hast du gelesen?" Sein Gesicht verhärtete sich und seine kühlen Augen bohrten sich drängend in die meinen.

"Gar nichts", log ich und wich seinem Blick aus. Er schnaufte verärgert und beugte sich zu mir runter, ehe er mein Kinn mit seiner freien Hand anhob und mich zwang, ihn anzusehen. "Ich frage nicht noch einmal, Kleines. Es wäre sehr dumm von dir, mich anzulügen."

Ich biss mir unsicher auf die Unterlippe und begann, nervös an meinem Ring zu drehen. Obwohl es mir unfassbar schwer fiel ihn einzuschätzen, war ich mir sicher, dass er mich nicht den Kopf abreißen würden, wenn ich ihm die Wahrheit sagte. Und selbst wenn doch - Judith war auch hier und somit eine potenzielle Zeugin.

"Nur die erste Seite", gab ich zu und beobachtete, wie sich seine Gesichtszüge noch weiter verhärteten. "Danach habe ich es sofort weggelegt. Ich hatte nicht vor, so in deine Privatsphäre einzudringen, das schwöre ich."

Wütend zog er die Augenbrauen zusammen und schlug gegen das Regal, gegen das ich lehnte. Erschrocken zuckte ich zusammen und formte meine zitternden Hände zu Fäusten. Er biss schweigend die Zähne zusammen und ließ von mir ab, kehrte mir den Rücken zu, vermutlich, um mir keine Einsicht in seine Gefühl zu gewähren. Er musste wirklich verzweifelt sein.

Ich legte den Kopf schief und sah ihn forschend an. Er hatte Angst. Panische Angst, dass jemand etwas über sein Buch herausfand. Was versteckte er in diesem Buch? Was war es, das er um jeden Preis geheim halten wollte? "Ich habe nicht vor, jemandem etwas davon zu erzählen. Es ist deine Sache. Ich kenne außerdem niemanden, den es interessieren würde, dass du Tagebuch führst", versuchte ich ihn zu beschwichtigen.

Er drehte sich wieder zu mir um und schüttelte abwertend den Kopf. "Du denkst doch nicht wirklich, dass das ein Tagebuch ist. So dumm kannst du nicht sein."

"Ich glaube, dass du mit dem Buch etwas verarbeitest", sagte ich und zuckte die Schultern, obwohl mir innerlich zum Heulen zumute wäre. Ich konnte nicht leugnen, dass er mir Angst machte und ich traute ihm einiges zu. Dennoch  glaubte ich ihn auf eine gewisse Art und Weise zu verstehen. Er versuchte krampfhaft, einen Teil aus seiner Vergangenheit vor allem und jedem abzuschirmen, ein Geheimnis, das niemand erfahren durfte.

Er hatte seine Wut, seine Ängste und Gedanken in dieses Buch gesperrt und gehofft, dass sie niemals wieder das Tageslicht erblicken würden. Ich hatte einen Teil davon freigelassen und das beunruhigte ihn.

Alex fuhr sich schnaufend durch die Haare und musterte mich verständnislos. "Hör auf so zu tun, als würdest du mich kennen. Du hast keine Ahnung." Die Verachtung, die seine Augen wiederspiegelten, durchfuhr mein Herz wie ein Blitz. Sein Blick war so unfassbar anklagend und kalt und ich erkannte mich unwillkürlich in ihm wieder. Ich schluckte und zwang mich, ihm standzuhalten. Ich kannte diesen Ausdruck wie meine Westentasche, konnte genau nachvollziehen, wie er sich fühlte. Wie oft hatte ich schon Menschen mit demselben Blick angesehen? Seine Reaktion war, genauer betrachtet, absolut gerechtfertigt. Sollte jemand jemals etwas über meine Vergangenheit herausfinden, würde ich mich ebenso ausgeliefert und schutzlos fühlen.

"Das tu ich doch gar nicht." Ich legte die Lektüre auf dem Regal ab und trat einen Schritt auf ihn zu. "Ich verstehe das, wirklich. Aber dass ich über deinen Traum mit der Spritze Bescheid weiß, können wir jetzt nicht mehr ändern. Es tut mir leid. Wenn du-..." – "Du verstehst gar nichts", unterbrach er mich. "Und das wirst du auch nie, also hör einfach auf, mich erklären zu wollen. Daraus wird nichts."

"Im Übrigen warst du doch derjenige, der den Psychologen raushängen lassen hat", sagte ich und biss mir unmittelbar danach auf die Unterlippe. Ich wollte nicht frech werden. Das würde ihn nur noch wütender machen. Das Beste wäre, mich einfach zurückzuziehen und zu hoffen, dass wir uns nicht mehr über den Weg liefen.

"Bei gestörten Menschen wie dir kann ich das leider nicht abschalten", erwiderte er unterkühlt. Seine Aussage traf mich und ich wusste nichts mehr darauf zu antworten. Ich richtete meinen Blick zu Boden, damit er nicht sah, dass er mich verletzt hatte und wandte mich zum Gehen, als ich seine Hand an meiner Schulter spürte.

"Lass mich gehen", flüsterte ich und blinzelte die Tränen weg, die sich in meinen Augen anbahnten. "Du hast dein blödes Buch und ich werde ganz sicher kein Wort darüber verlieren. Und jetzt lass los."



Soul WandererWo Geschichten leben. Entdecke jetzt