Leiza
Ich kenne ihn eigentlich schon seit dem Kindergarten, aber irgendwie kannte ich ihn nie selbst. Es gab Momo schon immer nur im Doppelpack. Mit Coco. Die beiden waren unantastbar. Nichts hätte das zerstören können, was zwischen ihnen war. Er war der Einzige, der richtig auf Cocos gedankenverlorene Stimmungsschwankungen reagieren konnte. Ich habe sie damals nie verstanden. Habe nie verstanden, was sie dazu brachte, innerhalb von Sekunden von ausgelassener Heiterkeit zu einer tieftraurigen Miene zu wechseln oder umgekehrt. Was ging in diesem Mädchen vor sich? Momo kannte sie. Verstand sie. Konnte damit umgehen, als wäre nichts. Er war es, der sie immer zum Lachen brachte. Er war es, dem sie vollauf vertraute. Er war es und nicht ich.
Im Schatten. In der hintersten Ecke des Spielzimmers. Das unbeachtete schwarze Schaf. Das war ich. Auf der Grundschule waren wir nicht zusammen. Im Gymnasium dann schon. Eine Klasse. Darin: Coco, Momo und Ich. Nicht dass sie mich bemerkt hätten. Ich war unsichtbar. Sie hingegen war das Mädchen. Das Mädchen, auf das alle anderen neidisch waren. Weshalb? Ihr könnt es euch wahrscheinlich schon denken. An ihrer Seite war immer dieser verboten gutaussehende Junge. Der Weiberheld, den jede haben wollte. Und ich muss euch enttäuschen, aber er hielt sich nicht zurück. Blieb nicht allein bis er endlich die rumgekriegt hatte, die er eigentlich wollte... Sie schien es nicht zu merken. Zu merken, wie er sie anschaute, wie er von ihr redete, mit ihr redete. Für Coco (damals noch Hermine) war die Rollenverteilung klar: Er, der Weiberheld, sie, seine beste Freundin. »Seine« beste Freundin und gleichzeitig auch keines anderen Freundin. Die Jungen machten sich über sie lustig. Über ihren Namen, so schien es zumindest. Aber eigentlich war dieser nur die Ideenquelle für alle ihre Streiche. Was sie dazu antrieb, diese dann auch in die Realität umzusetzen, war Cocos Art. Ihre Art, immer verträumt durch die Gegend zu schlendern und nichts von dem was um sie herum passierte wirklich wahrzunehmen.
Doch genau das machte sie auch irgendwie so unantastbar. Coco war und ist eine Klasse für sich. Fragt mich bitte nicht, denn ich weiß auch nicht, wie es genau dazu kommen kann, dass eine Person, ohne irgendetwas zu tun, so unerreichbar werden konnte. Wie es zu einer solchen Ehre, zu einem solchen Ansehen kommen konnte wenn man auch nur mit ihr redete.
Sechste Klasse: Konfrontation. So habe ich sie in meinem Gedächtnis abgespeichert. Dieselbe Rolle im Theater. Auf einmal war ich nicht mehr unsichtbar. Ich war in den Schatten von Coco getreten. Auf einmal sahen die Leute mich an, aber sie sahen in mir nur den Ersatz für Coco. Irgendwann hatte ich keine Lust mehr darauf. Ich wollte genauso wichtig, genauso angesehen wie sie werden. Das gefiel ihr nicht. Plötzlich gab es nicht nur noch sie, sondern noch eine Zweite, die auf ein Podest stieg. Erst dadurch schien sie zu bemerken, welche Rolle sie in unserer Stufe spielte. Feinde. Das war der neue Status.
All das geht mir jetzt durch den Kopf. Jetzt, wo ich nicht mit ihr reden kann, wo ich gemeinsam mit ihm dasitze. Dasitze und warte. Normalerweise denke ich nicht so viel im Stillen. Coco ist es, die das in mir ausgelöst hat. Wenn dein Gegenüber in Gedanken versinkt, ist das ansteckend.
Ein leerer weißer Krankenhausgang. Weiße Bänke, weiße Türen, grellweiß leuchtende Neinröhren. Es ist, als würde das Weiß versuchen, u der Schwarz zu durchbrechen.
Momos Augen sind stumpf. Es scheint, als würde er nicht bemerken, wie ich ihn von oben bis unten mustere. Wie mein Blick von den riesigen Lippen über den Moosgrünen Parka und die langen aber muskulösen Beine bis hin zu seinen Doc Martens wandert. Seine Augen sind stumpf und blicken ins Leere. Er wirkt verloren. Es ist das erste Mal, dass ich ihn alleine sehe, aber es ist anders, als ich es mir vorgestellt habe. Er wirkt irgendwie nicht vollständig. Wie eine Figur, die zerbrochen ist. Jemand hat die Porzellanteile aufgesammelt. Hat sie sorgfältig wieder zusammengeklebt, aber das letzte Stückchen hat es nicht fi den können. Das letzte Stück, das seine Augen leuchten lässt, fehlt. Die Porzellanfigur bleibt eine Figur. Sie wird nicht anfangen, zu atmen, wird nicht anfangen, zu sehen, wird nicht anfangen, zu leben, bis jemand das letzte Stück findet und vorsichtig einsetzt.
Ich verstehe zwar, was all die Mädchen meinen, wenn sie von seinen Augen schwärmen - sie sind schon beeindruckend - aber ich fühle mich nicht davon angezogen. Diese töten Augen machen mir viel mehr Angst. Sie sind nur noch Fassade. Klar. Sie sehen prinzipiell noch genau gleich aus, aber der Schein trügt.
Ich weiß immer noch nicht, weshalb er dieses Jahr nicht in die Schule gekommen ist. Es gibt unzählige Gerüchte. Von Krebs über Aids bis Multiple Sklerose wurde ihm schon so ziemlich alles angehängt. Bis jetzt erschien mir noch kein Gerücht wirklich plausibel. Auch jetzt, da ich ihn so mustere, bleibe ich bei meiner Meinung. Es ist etwas beinahe unsichtbares, was ihn zuhause gehalten hat. Ich könnte ihn fragen. Aber bis jetzt zögere ich noch. Es erscheint mir im Moment falsch. Es ist gerade nicht so wichtig. Es ist eine andere Frage, die mir auf einmal auf der Zunge liegt.Momo
"Wir sind zu spät." - Das war der erste Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, nachdem sie die Tür aufgebrochen hatten. Selbst durch mein Milchglas hindurch konnte ich die Zerstörung sehen. Die Zerstörung und den roten Schimmer. Coco lag auf dem Boden. Es war viel zu still. Irgendetwas in mir verlangte, laute Schreie oder Heavy Metal oder was weiß ich was zu hören. Hauptsache etwas lautes. Es war viel zu still für das, was passiert war. Doch das allerschlimmste war, dass ich nichts mehr tun konnte. Dass ich eigentlich nur noch im Weg herum stand. Es waren Leiza und Nicholas, die das Ausmaß des Chaos' sahen, den Krankenwagen riefen, alles in die Hand nahmen.
Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich endlich mitbekam, dass wir doch nicht zu spät gewesen wären. Etwas hatte sie aufgehalten. Möglicherweise war ich es sogar gewesen. Wir hatten gefühlte Stunden vor ihrer glatten schwarzen Zimmertür gestanden. An die Tür haben wir gehämmert,geklopft, getreten, geschrien. So wie es vor einer Weile wohl meine Eltern bei mir getan hatten.... Bei mir... Auf einmal fiel es mir ein. Fiel mir ein, was mich damals in meiner Rage gestoppt hatte: Der Code. Der Code, den wir uns als Kinder ausgedacht hatten, um zu wissen, wer vor der Tür sei, wenn wir uns aus Wut oder irgendeinem anderen Grund in unseren Zimmern verkrochen hatten. Der Code. Manchmal wurde er nachts von Fenster zu Fenster geblinkt oder mit den extra dafür geschnitzten Weidenruten an das Fenster geklopft wurde, woraufhin einer von uns beiden auf oft abenteuerliche Weise das Haus wechselte. Der Grund dafür konnte oft einfach nur ein gewöhnlicher Albtraum sein. Der Code. Ich denke, es war der Code, der auch sie aufgehalten hatte, bei dem, was sie tun wollte. »- . . - - . . . . -«
Nicholas hatte mich geholt. Er war absolut fertig mit den Nerven. Wusste nicht mehr, was er tun sollte. Seine Angst verdickte die Luft, dass man sie hätte schneiden können. Seine Angst um seine Tochter. Seine Angst die ernst zu nehmen war!
In seiner Eile bemerkte er gar nicht die Schwierigkeiten, die ich dabei hatte, ihm zu folgen. Anscheinend war ich nicht der einzige, an den er gedacht hatte. Vor Cocos Zimmer stießen wir auf Leiza. Ich weiß, dass Coco denkt, ich könne sie nicht leiden. Bis jetzt konnte ich das auch nicht. Sie hat Coco zu viel angetan. Nie habe ich verstehen können, wie die beiden sich anfreunden konnten. Es hat mich eingeschüchtert. Möglicherweise bin ich unrealistisch, aber ich hatte tatsächlich irgendwo Angst, sie weggenommen zu bekommen. Jetzt jedoch war ich froh, sie zu hören. Dankbar, sie da zu haben. Leiza. Cocos Freundin, die noch anpacken kann. Cocos Freundin, der sie noch vertraut.
Was hat Coco so weit gebracht? Bin ich etwa schuld? Ist es Nicholas? Ist es ihre Mutter? Wieso habe ich sie allein gelassen? Sie hat mich gebraucht und ich habe sie allein gelassen! An dem Moment, an dem sie mich das erste Mal wirklich gebraucht hat, habe ich sie sich selbst überlassen. Habe ihr kampflos das leere Feld überlassen. Wie konnte ich nur?
Leiza starrt mich an. Ich fühle, wie ihre Blicke mich durchbohren, spüre, wie sie in Gedanken versinkt. Ein anderes Gefühl als bei Coco aber vergleichbar. Wir könnten reden, aber nicht jetzt. Nicht so. Nicht hier. Der leere Gang hallt zu laut. Was wir zu sagen haben, spricht man nicht zu laut aus. Atmen. Schweigen. Stille.
So viel ich weiß, hat keiner meiner Klassenkameraden eine Ahnung, weshalb ich nicht mehr in die Schule gehe. Was sie mir wohl alles schon angehängt haben? Gerüchte verbreiten sich schnell. Sie setzen sich leicht fest. Sie nisten sich gerne ein. Wie ein Kuckuck verdrängen sie, was ihnen nicht ins Konzept passt. In den warmen Köpfen der Unwissenden bauen sie sich ihr Nest und beginnen, zu brüten.
Leiza weiß auch nichts, vermute ich. Wahrscheinlich liegt ihr diese Frage gerade auf der Zunge. Doch nein. Es ist eine andere Ungewissheit, die auf einmal ihre Lippen öffnet. Ob diese Lippen wohl immer noch so schmal, beinahe unsichtbar, sind? Ob sie sie wohl immer noch zu diesem Strich zusammenkneift, wenn sie nachdenkt, oder sich ärgert?
Die Frage, die plötzlich unausweichlich im Raum steht und undankbar in dem leeren Gang Nachhall ist eine andere. Sie wirft mich um ein dreiviertel Jahr zurück. Nur zu detailreich könnte ich sie beantworten... Könnte.
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Coco
Teen FictionDas Leben der drei Teenager Coco, Momo und Leiza hätte durchschnittlicher nicht sein können. Sie wohnen in einer Kleinstadt, gehen ganz normal zur Schule und erwarten nichts ungewöhnliches von ihrer Zukunft. Eines Tages ist das alles vorbei. Die kle...