8. Beitrag

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Flugblätter


Das magere Essen, das die Kinder dieses Waisenheimes bekamen, stank. Während Chastity Kelle um Kelle Brei auf die Teller der Waisen verteilte, verzog sie ihren Mund zu einem gezwungenen Lächeln. All diese Kinder, sie alle taten ihr schrecklich leid. Chastity wusste, dass viele der Mütter wohl Hexen gewesen waren, also hatten sie eigentlich Glück, in einem Haus mit warmen Decken leben zu können. Doch Chastity machte sich starke Sorgen – liefen nicht draußen die Kinder in Gefahr, von den Bestien heimgesucht zu werden? Erst recht, wenn sie die vielen Flugblätter verteilten, die ihnen aufgezwungen wurden. Zog es doch die verfluchten Teufelsfrauen an!

Die Kinder drängelten an ihr vorbei, nachdem sie sich die aufklärenden Blätter geschnappt hatten. Nun würden sie wieder durch die Straßen wandern, ignoriert von den Nichtwissenden, die all ihre Arbeit, ihre Mühen nicht schätzten. Mary Lou, die Frau, die diese armen Geschöpfe dazu aufforderte, war eine sehr entschlossene Frau. Stets trat sie mit geordneten Haaren auf, lächelte schmal und elegant und versuchte ihre Mitmenschen von der Wahrheit zu überzeugen, wie sie auch Chastity überzeugt hatte. Chastity bewunderte sie. Doch bekam sie auch ihre harte Seite zu sehen – besonders Credence, ein älterer Junge, musste ihre Hiebe ertragen. Offenbar konnte sie ihn am wenigsten leiden von all den Kindern, die sie adoptiert hatte.Chastity versorgte seine Wunden nach besonders schmerzvollen Schlägen, doch Credence war so stark. Nie schrie er, nie versuchte er, sich zu verteitigen. Credence nahm es so hin.


Nachdem alle Kinder hinausgeströmt waren, machte sich Chastity an ihre täglichen Aufgaben: Geschirr spülen, Dokumente stapeln, neue Flugblätter ordnen, Versammlungen vorbereiten. Als sie bei ihrem dritten Punkt angelangt war, gerade im dunklen Flur, erwartete sie Mary Lou. Erschrocken zuckte Chastity zusammen, doch streckte sofort wieder ihre Schultern, wie man es ihr beigebracht hatte. »Ma'am? «,fragte Chastity mit hoher Stimme. Die Herrin lächelte und sagte:» Chastity. Haben sie schon die Flugblätter vorbereitet? « Die sanfte Stimme Mary Lou's durchdrang Chastitys Körper. »Nein, Ma'am. Ich wollte gerade mit Drucken anfangen. «,sagte sie, stolz auf sich, dass sie nicht gestottert hatte. Mary Lou schritt langsam an ihr vorbei und wisperte: »Ich möchte, dass sie verstehen, wie wichtig das hier ist. Wir können die Menschheit warnen. «,Mary Lou sah Chastity tief und fest in die Augen, der stechende Blick verunsicherte Chastity, »Machen Sie sich an die Arbeit. «»Ja, Ma'am. «,sagte Chastity zögerlich. Sie sah der Frau noch etwas nach und ging dann raschen Schrittes in die Druckkammer. Dort verbrachte sie Stunden damit, Schritt für Schritt Aufschriften und Flyer zu drucken.


Nach einiger Zeit setzte Chastity sich mit einem der Flugblätter auf einen der wackeligen Stühle. Eigentlich führte sie immer nur die Befehle ihrer Herrin aus und betrachtete die einzelnen Flyer nicht sonderlich genau, doch etwas an diesem Blatt erregte ihre Aufmerksamkeit. Die großgedruckte Überschrift > Sie leben unter uns < war leicht verwischt. Darunter schimmerten blass jedoch die Worte > Wappne dich <. Verwundert starrte Chastity auf das misslungene Blatt. War ihr beim Drucken ein Fehler unterlaufen? Hatte sie die Buchstaben falsch gelegt? Chastity konnte sich nicht erinnern, jemals diese Worte verwendet zu haben. Und doch, sie bildeten sich fein und blass auf dem gelblichen Papier ab. Chastity blinzelte. Sicherlich bildete sie sich das nur ein – wahrscheinlich war sie einfach nur müde vom vielen Arbeiten. Gerade als Chastity das Blatt zerreißen wollte, veränderte sich die Schrift ein zweites Mal. Plötzlich wurde aus >Wappne dich. < > Schau hin <. Chastity blinzelte erneut. Das war nicht möglich. Garantiert spielten ihre Augen ihr einen Streich– Worte konnten sich nicht einfach verändern. Das war Hexenwerk! Erschrocken ließ Chastity das Flugblatt fallen und wich zurück. Aus einer plötzlichen Eingebung schaute sie aus dem Fenster. Dort saß eine große Frau mit kurzen, blonden Haaren und blickte sie an. Chastity wich noch einen Schritt zurück und stieß gegen die Holztür. Mit einer Hand am Griff starrte Chastity entgeistert zurück. Sie würde es Mary Lou erzählen. Doch die blonde, fremdartige Frau schüttelte traurig den Kopf. Chastity sah zur Türklinke. Als sie zurück zum Fenster blickte, war die Frau verschwunden. Chastity erzählte es niemanden.


Es war schon einige Zeit her, seit Chastity diese Nachricht erhielt. Nun saß sie wieder in dem Raum und während sie die Blätter sortierte, grübelte sie über den Vorfall. Noch immer verstand sie nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Selbst die Vorfälle in der Stadt machten ihr zu schaffen. Eine gewiss dunkle Macht hatte sich über New York City ausgebreitet. Mehrere Häuser waren eingestürzt, aus welchen Gründen auch immer. Chastity schauderte es. Hexenwerk steckte dahinter, dessen war sie sich sicher. Sie stand langsam auf und trat  mit einer handvoll Flugblätter aus dem Raum. Chastity würde nur noch diese Blätter in das Büro ihrer Herrin bringen, danach war es Zeit, in ihre Schlafkammer zu verschwinden. Als sie im Treppenhaus ankam, hörte sie einige Stimmen. Schnell verzog sie sich in die Schatten. >> Credence. << Das war definitv die Stimme ihrer Herrin. Doch statt des beruhigenden Tones, sprach sie drohend. Im nächsten Augenblick hörte Chastity ein schmerzerfülltes Stöhnen. Sie kniff die Augen gequält zusammen. Nicht länger würde sie das ertragen - wie Mary Lou ihre Kinder schlug. Chastity trat aus dem Schatten. Da wurde sie von einem schwarzen Wind erfasst, der sie einige Meter weiter fegte. Benommen lag Chastity auf dem Parkett und vernahm ein Reißen. Sie hatte das verdächtige Gefühl, dass es das Reißen von Haut war. Chastity versuchte sich aufzurichten, doch die nächste kalte und dunkle Welle sauste über sie hinweg. Stühle flogen herum, Holz knackte. Chastity ließ vor Schreck die Blätter los, erstarrte völlig. Dann wurde sie unter Schutt begraben. Im nächsten Moment war wieder alles ruhig. Nur die Verwüstung erzählte von dem Ereignis. Die  Flugblätter wirbelten herauf und segelten lagsam zu Boden.

> Sie leben unter uns. <

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 27, 2018 ⏰

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