2. Das Wagnis

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Es hatte sich selbst bis in den tiefsten Kerker von Asgard herumgesprochen, dass der Kronprinz Thor seine sterbliche Freundin Jane Foster mit in das Reich des Allvaters gebracht hatte.
Das Problem war jedoch nur, dass sie den Aether in sich trug, ein weiterer Infinity Stein, der eine weitere machthungrige Gestalt angelockt hatte, welche letzten Endes auch an Friggas Tod schuldig war.
Loki wollte es dem Dunkelelfen namens Malekith und seinem Schergen heimzahlen, doch was konnte er von seiner Zelle aus schon bewerkstelligen? Außerdem fühlte er sich, trotz der unbändigen Wut, die in ihm kochte, nicht dazu fähig, den Kerker auf eigene Faust zu verlassen und sich gewaltsam an dem Mörder seiner Mutter zu rächen. Ihm fehlte einfach der Antrieb dazu. Er hatte zwar auch keine Lust, den Rest seines Lebens im Gefängnis zu verrotten, aber ihm blieb wohl nichts anderes übrig, als sein Schicksal hinzunehmen, falls sich kein anderer Weg auftun sollte.

Loki verstand nicht, wie Thor so sehr in eine sterbliche verliebt sein konnte, dass er das Wohl des gesamten Universums aufs Spiel setzte. Der beste Weg, den Aether davor zu bewahren, in die Hände des Dunkelelfen zu gelangen, war, die Frau einfach sterben zu lassen, um dann den Infinity Stein sicher in Asgard verwahren zu können, doch das ließ Thor nicht zu. Laut Odin gab es keinen Weg, den Aether aus Thors Freundin bekommen zu können, ohne ihr ernsthaften Schaden zuzufügen. Loki war Janes Zustand relativ egal, doch würde sie sterben, hätte er nichts mehr, mit dessen Hilfe er Thor unter seine Kontrolle bringen konnte. Sein Adoptivbruder hatte das Vertrauen zu Loki verloren und Thors Geliebte schien für Loki der einzige Weg zu sein, den Donnergott für seine Zwecke manipulieren zu können.
Loki wusste zwar nicht, ob er diesen Trick jemals wieder bei seinem Bruder einsetzen werden müsste, aber nützlich war es allemal.

Nur ein paar Momente nachdem am vorherigen Tage Scharen von Gefangenen ausgebrochen waren, hatte Loki eine Erschütterung bemerkt. Im Nachhinein hatte er aus Gesprächsfetzen der Wachen entnehmen können, dass ein riesiges Raumschiff der Dunkelelfen in den Palast gekracht war. Staub und kleine Gesteinsbrocken waren von der Decke gerieselt und es hatten sich auch ein paar feine Risse gebildet. Loki hatte dies bisher ignoriert, doch nun kam ihm eine Idee. Er sah sich um und entdeckte einen Riss, welcher sich von der Innenseite der Zelle durch die Wand zog und bitte zur anderen Seite auf den Gang führte. Natürlich hatte dieser Spalt nur einen Durchmesser von wenigen Millimetern und war eigentlich kaum zu sehen, wenn man nicht genau hinschaute. Man könnte denken, diese kleine Lücke bot einer Person von Lokis Größe keinen Ausweg, aber er war nicht zu Unrecht als Meister der Zauberkünste bekannt.
Lange dachte Loki darüber nach, ob sich ein Ausbruch lohnte. Es gab nichts spezifisches für das er fliehen musste, jedoch hatte er die bedrückte Stimmung, die hier tief unter der Erde herrschte, bereits nach wenigen Tagen satt und er wüsste nicht, in welchem Geisteszustand er landen würde, bliebe er sein restliches Leben hier. Lieber führte er ein einsames Leben, versteckt am Tageslicht in Asgard, als ein einsames Leben in der Dunkelheit des Kerkers. Falls Malekith es noch einmal wagen sollte, Asgard zu betreten, könnte er sich in Freiheit auch gleich an diesem rächen und so, obwohl er ausgebrochen war, die Gunst seines Bruders zurückerlangen, was ihm für weitere Schritte zurück in sein altes Leben von großem Nutzen sein könnte.
Nach langem Abwägen von positiven und negativen Aspekten, die sein Ausbruch mit sich bringen würde, entschied er sich schließlich. Loki war ein freier Geist und ließ sich nicht von seinen eigenen Leuten gefangen nehmen. Auch nicht, wenn der Allvater höchstpersönlich den Befehl dazu erteilt hatte. Was Odin sagte, war Loki sowieso schon längst egal und spielte keine Rolle mehr für ihn.
Schnell sah er nach, ob Wachen in der Nähe waren. Er hatte Glück, denn sie alle waren damit beschäftigt, einen offenbar zurückgebliebenen Dunkelelfen zu inhaftieren. Rasch rollte Loki sein Decke auf seinem Bett so ein, dass es aussah, als würde er schlafen, damit seine Abwesenheit wenigstens erst etwas später auffallen würde, dann setzte er sich sofort wieder auf den Boden und lehnt sich an die Wand, um bei dem vorbeikommenden Wachmann, welcher wohl auch zur Zelle des Dunkelelfens marschierte, kein Aufsehen zu erregen.

Loki rief sich in Erinnerung, was Frigga ihm von vielen Jahren beigebracht hatte. Die Magie der Gestaltwandlung war bei weitem nicht die einfachste und erforderte viel Geschick und Konzentration. Man musste das Wesen, in das man sich verwandeln wollte, während der Anwendung der Zauberei möglichst genau vor Augen haben, sonst könnte einiges schief gehen. Glücklicherweise war Loki sehr talentiert in diesem Gebiet und schaffte es immer problemlos, die gewünschte Gestalt anzunehmen. Diesmal jedoch könnte es schwieriger für ihn werden.
Lokis Adoptivmutter hatte ihm beigebracht, dass der Verwandlungszauber umso schwieriger wird, je weniger ähnlich man der Beschaffenheit der gewünschten Figur ist. In Lokis und Friggas Fall, war es am Einfachsten, sich in andere Humanoide, wie beispielsweise weitere Asgardianer oder auch Frostriesen zu verwandeln. Die meisten Säugetiere und Reptilien stellten auch kaum ein Problem für Loki da, jedoch wurde es auch hier umso waghalsiger, je kleiner das Wesen war. Nun hatte Loki aber vor, sich in ein winziges geflügeltes Insekt zu verwandeln, um durch den Riss in der Mauer zu passen. Etwas, das er erst sehr wenige Male gemacht hatte und sogar ihm durchaus Anstrengung gekostet hatte. Loki plante, die Verwandlung so kurz wie möglich andauern zu lassen, weswegen er sich erhob und zu der gegenüberliegenden Wand, durch die sich der, auf Augenhöhe liegende, Spalt zog, schritt, um es zu vermeiden, in seiner neuen Form unnötig viel Weg zurücklegen zu müssen. Er blieb kurz davor stehen und schloss die Augen, um sich besser konzentrieren zu können. Dann zentrierte er all seine Energie in einen Punkt seines Körpers, und leitete die Transformation ein. Als er seine Augen wieder öffnete, sah er die Welt in lauter kleinen Sechsecken, was ihn anfangs verwirrte, doch nach einem kurzen Moment erinnerte Loki sich wieder an seinen Plan und lokalisierte mit seinen Facettenaugen den Spalt in der Wand. Seine wahre Gestalt versuchte mit allen Mitteln, sich aus der Instektenform zu befreien, doch Loki wusste, dass es katastrophal enden würde, wenn er jetzt, während er durch die dicke Mauer flog, seinem Drang nachgab und sich zurückverwandelte. Er beschleunigte sein Tempo auf das äußerste Limit, doch auf den letzten Zentimetern seine Weges begann er, sich immer schwächer und schwächer zu fühlen. Er konnte bereits das Licht am Ende des Tunnels... oder des Spaltes in der Mauer erkennen und gab sein Bestes, nicht überanstrengt von der Verwandlung in der massiven Mauer zu sterben. Mit vereinten Kräften schaffte er es schlussendlich doch noch, das letzte Stück zurückzulegen und landete mit einem sanften Aufprall in seiner ursprünglichen Gestalt am Boden vor der Zelle. Er hatte es geschafft.
Loki war frei.

The Secret Pain of Loki Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt