•▪■Kapitel 1■▪•

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"Glaub mir..." Kiria, die Tochter Sheranions mit den verwirrend stark golden leuchtenden Augen, stöhnte und machte es sich auf dem Felsvorsprung, auf dem sein Geburtsnest lag, bequem. "...ich habe auch die Nase voll davon, dich die ganze Zeit überwachen zu müssen. Wann verstehst du endlich, dass du nicht trainiert genug bist, um den Hort zu verlassen?"
"Dann bringt es mir doch endlich mal bei.", zischte Raeion beleidigt. "Ich könnte bestimmt helfen."
"Genau. Indem wir dich nachher aus irgendeinem Gefängnis fischen dürfen und so der ganzen Welt mitteilen, dass unser Schwarm sich neu aufbaut. Und, oh Wunder, dann werden sie kommen und uns erneut auslöschen.", erwiderte Kiria ironisch und schlug einen dicken Schmöker über einen gewissen Markus auf. "Kein Wunder, dass mein Bruder nicht zurückkommt. Mit so einem Sohn wie dir..."
"Erwähne ihn nicht!", fauchte Raeion schlug eine Faust frustriert gegen die kalte Steinwand.

Sein Vater war ein absolutes Tabu-Thema.
Im Gegensatz zu seiner Familie hasste er seine drachische Seite und war er eng mit den Sterblichen verbunden.
So sehr, dass er nur der Nötigkeit halber mit einer Drachin geschlafen hatte, aus dessen gelegten Eiern dann er geschlüpft war, der einzige Überlebende von sieben Welpen.
Doch sein Vater Shairion war sofort nachdem bekannt wurde, dass er geschlüpft war, zurück zu seiner nachtgeborenen Verlobten Chalan gegangen.
Er hatte ihn nicht einmal gesehen...und dann wurde ihm gesagt, dass er Schuld daran sei, dass Shairion nicht zurückkehrte.

Kiria starrte ihn wortlos an.
Dann wandte sie sich kopfschüttelnd dem Roman zu. "Ich finde ja, du solltest mal zu ihm und mit ihm reden. Er ist bestimmt froh, dass es dich überhaupt gibt."
"Froh?" Höhnisch spuckte Raeion auf den Boden neben sie. "Wenn er das wirklich wäre, warum habe ich ihn dann noch nie gesehen? Warum höre ich dann immer nur, dass seine Abwesenheit meine Schuld ist?!"
Diesmal antwortete Kiria nicht mehr.

Beleidigt warf sich Raeion auf den Rücken, schnappte sich den Zipfel einer Decke und rollte sich auf die Seite, diese mitziehend, bis er eingemümmelt zwischen all seinen Habseligkeiten lag.
Immer wenn er seinen Vater erwähnte, verfielen alle ins Schweigen.
Warum bekam er keine Antwort?

Er griff nach den schwarzen Dolchen, das einzige Geschenk, das sein Vater ihm hinterlassen hatte.
Es schmerzte ihn ja doch irgendwo...besonders weil seine Mutter unter intensiver Behandlung stand, wurde ihm gesagt, und das schon seit siebzehn Jahren.
Zum ersten Mal empfand er es als faul, doch er wusste, dass sie ihm auch das nicht beantworten würden.
Dennoch versuchte er es.

"Kiria?" Mit funkelnden Augen nahm er einen Dolch und spielte damit.
"Hmmm?", machte diese abwesend.
"Was ist eigentlich mit meiner Mutter?"
Stille.
"Kiria?"
"Sie ist in Behandlung, verdammt noch mal."
"So lange?"
"Ihr Zustand ist halt kritisch."

Ein lautes Zischen ertönte und ein paar schwarze Haare segelten auf den Boden.

"Wofür war das jetzt?", fauchte Kiria wütend und zog den Dolch mühelos wieder aus dem Stein.
"Ihr lügt und schweigt nur noch. Eigentlich habe ich gar keinen Grund, noch auf euch zu hören.", erwiderte er, nahm ihr den Dolch weg und steckte ihn zu seinem anderen unter den Gürtel. "Also, viel Spaß noch bei meinem Nest."
Grinsend beobachtete er, wie Kirias Körper erschlaffte, und wandte sich dann ab.
Der Dolch war vergiftet gewesen und ermöglichte es ihm nun, unbemerkt zu fliehen.

Denn wenn Kiria zu seiner Bewachung abgestellt wurde, war der Hort immer leer...bis auf ein paar Jungdrachen.
Doch die waren lange nicht so wachsam wie die Älteren.

Tatsächlich schaffte er es ungesehen aus dem Hort und seufzte wohlig auf, als der für Normalsterbliche eiskalte Wind unter seine Kleidung kroch und seine weiche Haut streichelte.
Wie lange war es wohl her, dass er den Berg gesehen hatte, in dem sich ihr Hort befand?
Sechzehn Jahre? Zwölf?

Eine Schneeflocke setzte sich auf seiner Nasenspitze ab und schmolz dahin.
Mit einem Schmunzeln rubbelte er sie sich von der Nase und verwandelte sich in den vergleichsweise winzigen Drachen, der er war.
Sein Ziel war erstmal einfach irgendwo, dann die schwebende Insel Dalaran, die angeblich ganz in der Nähe war.
Zwischen Suramar und Azsuna, hatte man gesagt.
Suramar lag ja schon direkt nordwestlich am Fuße des Berges, nah war es also wirklich.

Grinsend hob er ab, den Flugwind und die Temperaturunterschiede genießend.

Keiner verfolgte ihn, keiner wusste, dass er nicht in seinem Nest lag...bis auf Kiria, doch im besten Fall starb sie an dem Gift, ohne etwas getan haben zu können.
Er würde es nicht bereuen.
Er hätte kein Problem damit.
Vielleicht war er sogar zu weichherzig und deswegen kam sein Vater nicht, um ihn zu sehen.
Vielleicht würde er ihn sehen, wenn rauskam, dass seine nervige Schwester gestorben war...

Die schlagartig warme Luft riss ihn aus seinen Gedanken.
Suramar lag unter ihm, eine weite Landschaft mit orangefarbenen weiten Wiesen und violetten Bäumen und größtenteils zerstörten Dörfern, dennoch war so viel 'Leben' in ihnen.
Raeion schnaubte.
Ja, wenn man die schlurfenden, abgemagerten Gestalten als lebendig betrachten konnte, war der Rest der Welt sicher quietschlebendig.

Er wandte seinen Blick ab und der großen malerischen Stadt zu.
Suramar, die Stadt mit ebenjenem Volk, von denen eine ihm seinen Vater unerreichbar gemacht hatte.
Wenn er doch nur wüsste, wo das Haus der beiden war...

Raeion schüttelte heftig den Kopf.
Nein, er sollte Azerit sammeln.
Azerit, nicht Informationen über Shairion.

Er landete auf einem großen runden Platz auf der einzig sichtbaren schwebenden Insel, offensichtlich Dalaran.
Viele Leute tümmelten sich hier und doch schien niemand bemerkt zu haben, dass soeben ein Schwarzdrache unter ihnen gelandet war.
Oder aber, stellte Raeion mit einem blick auf seinen Arm fest, sie sahen schlicht und ergreifend keine Gefahr in ihm.
Traurig, aber wahr.

Vorsichtig schob er sich an massigen Tauren und zierlichen Elfen vorbei, bis er auf die ein wenig leereren Straßen trat.
Seufzend suchte er auf, was er vorerst für am besten hielt: Den Violetten Turm.
Wenn dort nicht ein Schamane aufkreuzte, wo dann?

Zufrieden mit seinem bisherigen Erfolg setzte er sich in dem Turm auf eine Bank und machte sich bereit zu warten.

The might of AzeriteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt