Lachend verlassen die beiden Frauen die kleine Boutique auf der anderen Straßenseite und spazieren gemeinsam über den überfüllten Fußgängerweg. Trotz der vielen Menschen stechen sie für mich heraus und es fällt mir leicht, die beiden in der Menge nicht zu verlieren.
Sie schlendern in meine Richtung und ich weiß, dass ich sie anstarre. Doch das ist mir egal. Die Augen der beiden Frauen strahlen mit der untergehenden Sonne um die Wette, sie halten meinen Blick magisch fest. Ich bin nicht mehr in der Lage, wegzusehen, selbst wenn ich wollte. Ich kann nicht anders, ich muss diese beiden Frauen beobachten, die soeben ihre Hände miteinander verschränkt haben.
Die ältere der beiden hat auffällig braune Locken, die ihr voluminös über die Schultern fallen. Sie trägt ihren roten Mantel, der ihr bis zu den Fußknöcheln reicht, offen. Darunter erkenne ich eine schwarze Skinny Jeans sowie ein paillettenbesetztes Top. Diese Frau ist atemberaubend schön. Jedes kleine Detail scheint sie einander angepasst zu haben. Ich beneide sie um ihre Ausstrahlung.
Diese Frau, die mindestens fünfzehn Jahre älter ist als die andere, hält ihre Freundin an der Schulter fest und bringt diese somit dazu, stehenzubleiben. Sachte und mit äußerster Vorsicht streicht sie der Blondine eine Strähne hinters Ohr, die ihr ins Gesicht gefallen war. Ihre Freundin ist genauso atemberaubend und faszinierend zugleich.
Ihre blonde Mähne hat sie zu einem Dutt hochgesteckt, wenige Locken umrahmen ihr rundliches Gesicht. Im Gegensatz zu der anderen Frau wirkt sie schüchtern, ihr Blick immer einige Meter vor sich auf den Boden gerichtet. Ihre Kleidung ist schlicht. Schlicht, aber elegant. Ihre beigefarbene Jacke hatte sie bereits direkt nach dem Verlassen der Boutique zugeknöpft. Ich frage mich, ob auch sie ein derart schönes Oberteil trägt wie die Brünette, die soeben laut auflacht und ihre Freundin zu einem kleinen Schmuckstand zieht.
Noch nie habe ich zwei Menschen so glücklich gesehen. Es ist fast so, als würden sie ihr Glück mit allen Personen um sich herum teilen wollen.
Nun dreht sich auch meine Mutter zu ihnen um und zieht herablassend die Augenbrauen hoch.
„Ich kann nicht verstehen, warum Homosexualität so einfach akzeptiert wird. Meiner Meinung nach widerspricht es den Grundsätzen der Natur in jeglicher Hinsicht. Und diese ganzen Trendlesben halten sich doch auch für besonders cool. Du gibst mir doch recht Schatz, oder?"
Ihre Stimme wird mit jedem einzelnen Wort höher und lauter. Daran merke ich wieder, wie sehr sie sich in ein Thema reinsteigern kann. Und wie ernst sie das meint, was sie sagt.
„Nein", ist alles, was ich sage. Traurig schaue ich die beiden Frauen ein letztes Mal an, bevor sie im nächsten Laden verschwinden.
Ich senke meinen Blick und widme mich wieder meinem noch immer vollen Teller.
Den Rest des Abendbrots verbringen wir schweigend, jeder vertieft in seinen eigenen Gedanken. Ich schaue die gesamte Zeit nicht mehr auf und knabbere nervös an meinen Nägeln, dessen roter Nagellack bereits stark abgeblättert ist.
Meine Angst, meine Augen könnten mich verraten, ist in letzter Zeit so groß geworden, dass ich Mums fixierenden Blicken konsequent ausweiche.
Da diese allerdings in ihrer eigenen Welt voller Modeartikel und Fotografen versunken ist, registriert sie meine Ignoranz bestimmt nicht. Zumindest rede ich mir das ein, um kein schlechtes Gewissen haben zu müssen. In Wahrheit macht es mich aber schlicht und weg traurig, dass wir immer weiter voneinander wegdriften, als hätten wir uns nie wirklich nahgestanden.
Dabei war früher alles anders.
Seitdem sie nach Papas Tod wieder herzog, mussten wir uns erst wieder aneinander gewöhnen, doch letzten Endes machten wir doch jede kleine Kleinigkeit zusammen, sei es nun das wöchentliche Einkaufen, das Bäderputzen oder die Kinobesuche.
Doch seit sie in mein Leben getreten ist, blieb nichts mehr, wie es war.
Nach dem Abendbrot sind Mama und ich noch ein wenig an der Elbe spazieren gegangen, doch wurde sie wie so oft in letzter Zeit zu früh von der Müdigkeit überrollt. Somit sind wir beide zurück in unser kleines Hotelzimmer gegangen, wo Mama sich auch sofort schlafengelegt hat, doch ich nicht. Meine Gedanken lassen mich noch nicht zur Ruhe kommen. Wenn sie es denn überhaupt jemals tun.
Mit angewinkelten Knien sitze ich auf der schäbigen Fensterbank neben dem Bett und starre hinaus aus dem Fenster, hinaus in den Regen. Einige Passanten huschen noch über die Straßen und suchen Unterschlupf in Cafés oder Kneipen.
Ich schließe die Augen und atme einige Male tief ein und aus, doch mein Kopf scheint noch immer nahezu zu explodieren.
Als ich die Augen wieder öffne, rollt eine Träne meine aufgeheizten Wangen hinunter und tropft auf meine Hand.
Automatisch schweifen meine Gedanken zurück zu dem Tag, als ich meine Hand um ihren dünnen Arm klammerte. Ich hielt mich an ihr fest, als würde ich ohne sie zu Boden fallen. Noch heute spüre ich den weichen Stoff ihrer Strickjacke auf meiner Haut, als wäre es erst gestern gewesen.
Sie zu spüren erfüllte mich mit einer derartigen Euphorie, dass ich mich sogar wieder daran erinnern konnte, wie sich lebendig sein anfühlt.
Sie war mein Anker, der mich vorm Ertrinken rettete. Doch wie soll ich mich über Wasser halten, wenn sie mich verlässt? Wenn sie aus meinem Leben verschwindet, als hätte es sie nie gegeben? Wo lande ich dann?
Aufgebracht beginne ich, an der kleinen Silberkette an meinem Hals zu spielen, an ihrer Kette.
Ich sehe zu meiner schlafenden Mutter hinüber und fasse den Entschluss, nochmal raus zu gehen, bevor meine Gedanken mich in diesem zu kleinen Zimmer ersticken. Zügig ziehe ich mir einen warmen Pullover über und hinterlasse ihr noch schnell eine Nachricht in meiner unleserlichen Schrift, die ich auf den Nachttisch lege.
Vor der Tür des Hotels angekommen, ziehe ich sofort die frische Regenluft ein und bin langsam in der Lage, mich zu entspannen. Es tut gut, alleine in einer Stadt zu sein, wo niemand deinen Namen kennt und niemand weiß, wer du wirklich bist. Es ist fast so, als könne man neu anfangen.
Nur holt mich meine Vergangenheit immer wieder ein, sie holt mich immer wieder ein und bringt die Frau in mir zum Vorschein, die ich mit allen Mitteln verstecken wollte. Aber wie lange ist man in der Lage, sich zu verstellen, bevor man sich selber verrät und im schlimmsten Fall noch selber verliert? Und wie lange kann man eine Lüge leben, bevor man sie selber glaubt?
Zuhause fühlte ich mich wie in einem Gefängnis. Ich fühlte mich wie ein großer Vogel in einem winzigen Käfig, der seiner Freiheit beraubt worden ist und nur darauf wartete, zu entfliehen. Meine Seele konnte sich nicht entfalten, wurde eingeengt von allen Menschen um mich herum. Der Gedanke an diese tiefe Leere und diese innige Sehnsucht nach Liebe verzehrte mich von Tag zu Tag mehr und löste ein Schaudern in mir aus.
Doch dann kam sie plötzlich in mein Leben, brach das Schloss auf und erwärmte mein Herz, so dass es wieder schlagen konnte. Ich fühlte mich, als würde ich tatsächlich leben.
Seit Monaten hörte ich nun kein einziges Wort von ihr und mein Körper beginnt seitdem, von innen nach außen hin zu erfrieren. Selbst mein dicker Pullover erwärmt mein Herz nicht annähernd so wie ihre Worte. Immer und immer wieder berührte sie mich, ohne dass ihre Haut auf meine traf.
Mit einem starr nach vorne gerichteten Blick nähere ich mich einer schmalen, studentenüberfüllten Gasse. In mir wächst die Hoffnung, die Frauen von vorhin wiederzufinden, aber ich suche vergeblich in der Menge von fremden Gesichtern.
Wäre ich mutig, würde ich meine Gefühle in die Welt hinausschreien, aber das bin ich nicht mehr und werde es nie wieder sein.
Ich lege meinen Kopf in den Nacken, spüre den Regen auf meinen Augenlidern, auf meinen Lippen. Ich halte die Luft an und fühle mich frei, wenigstens für einen winzigen Augenblick.
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Mitternachtsrose
FanfictionAntonia ist siebzehn Jahre alt und sollte sich voll und ganz auf das anstehende Abitur konzentrieren. Nicht nur ihre andauernd gestresste Mama, sondern auch ihre Gefühle machen ihr dies unmöglich. Antonia will mit aller Macht sie selbst sein. Doch w...