Unsicher blicke ich in den runden Spiegel über der Anrichte des Waschbeckens, dessen silberner Rahmen bereits mit Rost überzogen ist. Fixiert starrt mich das blauäugige Mädchen mit den dichten langen Wimpern an, doch es fällt mir unendlich schwer, ihr länger als eine Sekunde in die Augen zu sehen. Wasserflecken zieren die Scheibe und überziehen die Haut der Fremden wie umherschwirrende Kristalle in einer Schneekugel.
Obwohl dieses Mädchen die gleichen braunen glatten Haare, die gleichen geschwungenen Lippen und den gleichen ernsten Gesichtsausdruck hat, kann diese unmöglich ich sein.
Wer ist die fremde Seele in meinem Körper, die mich so oft vom Schlafen abhält und mich seit Monaten mit Herzrasen aufwachen lässt?
Skeptisch ziehe ich die Augenbrauen hoch, schüttele den Kopf und starre sie noch einige Sekunden lang an. Nachdem ich einige Male hörbar tief ein- und ausatmete, wende ich mich ab und verlasse das Bad.
Als ich mein großes, lichtdurchflutetes Zimmer betrete, durchschüttelt es mich augenblicklich. Gänsehaut breitet sich auf meinen Armen aus und ich entschließe mich, die Heizung voll aufzudrehen, obwohl der Spätsommer noch nicht vorüber ist.
Ich lasse meinen Blick durchs Zimmer gleiten, in der Hoffnung, die Anspannung in mir würde abfallen. Doch noch immer zittern meine Hände, die ich hektisch an meinem Rock abwische. Ich spüre, wie mein Herz unregelmäßig in meiner Brust schlägt. Warum bin ich bloß so unendlich nervös?
Ich setze mich auf mein Bett und starre das verblichene Filmposter an, das gegenüber von mir an der Dachschräge hängt. Auf beiden Seiten daneben ist die cremeweiße Wand zugeklebt mit winzigen Polaroids, die ich diesen Sommer über gemacht habe.
Es ist fast so, als würden sie eine Geschichte erzählen; meine Geschichte, die gerade erst am Anfang steht. Behutsam stehe ich auf und durchquere das Zimmer, der Holzboden knarrt unter meinem Gewicht und erinnert mich daran, wie alt dieses Backsteinhaus bereits ist. Schon meine Großeltern verbrachten hier ihre Kindheit.
Vor der Wand bleibe ich stehen, hebe meine Hand und lasse meine dünnen Finger über jedes einzelne der winzigen Bilder gleiten. Hunderte, für andere unbedeutende Momente spielen sich in meinem Kopf ab wie in einem Film.
Vor meinem Auge erscheint das Meer, ich höre den Wind am Strand rauschen, dessen Sand von der Sonne ganz aufgeheizt ist und rieche das Salz in der Luft. Dann sehe ich den Sonnenuntergang an einer Küste Italiens, wo ich mit meinem Vater in meiner Kindheit Urlaub gemacht habe.
Der Himmel wurde von einem so unbeschreiblich intensiven Violett durchzogen, dass ich dachte, ich würde träumen. Hand in Hand standen wir auf der Terrasse, hielten uns verkrampft aneinander fest, während wir der Sonne beim Ertrinken zusahen. Als sie verschwunden war und alles um uns herum dunkel wurde, sagte mein Vater: „Sieh mal Liebling, auch das Ende von etwas kann wunderschön sein."
Meine Antwort glich einem müden, hoffnungslosen Lächeln. Bestimmt hatte er recht, aber ich hätte gerne ein paar Beweise.
Ich würde inzwischen wirklich alles dafür geben, die Zeit zurückzudrehen, damit ich mich noch ein einziges Mal an Papas Armen festklammern kann, bevor ich endgültig untergehe.
Noch einige Minuten lang verliere ich mich in meinen Tagträumen, dann zwinge ich mich, in die Realität zurückzukehren. Immerhin ist heute der erste Schultag der Abiturienten, ein Zuspätkommen kann ich mir nicht leisten.
Träge hänge ich mir meine abgegriffene Handtasche um die Schultern und gehe die Treppen hinunter. Seit ich groß genug bin, das Geländer zu erreichen, halte ich mich daran fest. So auch heute. Das mir vertraute Geräusch meiner Hände auf dem glatten Holz entspannt mich ein wenig, doch noch immer spüre ich in mir diese mir bisher nicht bekannte Unruhe.
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Mitternachtsrose
FanfictionAntonia ist siebzehn Jahre alt und sollte sich voll und ganz auf das anstehende Abitur konzentrieren. Nicht nur ihre andauernd gestresste Mama, sondern auch ihre Gefühle machen ihr dies unmöglich. Antonia will mit aller Macht sie selbst sein. Doch w...