Kapitel 3

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Als ich nach Hause komme, ist es inzwischen 17 Uhr, doch meine Mutter ist noch immer nicht da, obwohl sie schon seit Stunden Feierabend hat.

Inzwischen wundert mich ihre Abwesenheit wahrlich nicht mehr. Und ehrlich gesagt kann ich es ihr noch nicht einmal verübeln. Sie verbringt ihre Zeit so gerne in der Agentur, wie ich meine Zeit in der Schule verbringe.

Ich denke, wir sind beide der Ansicht, dass wenn wir nebeneinandersitzend alleine sind, wir uns auch gänzlich aus dem Weg gehen können.

Sie war in den Momenten, wo eine Tochter ihre Mutter gebraucht hätte, schlicht und weg nicht da. Sie war diejenige, die uns verlassen hat, nicht umgekehrt. Warum sie das allerdings bis dato so hinstellt, verstehe ich nicht.

Was ist man für ein Mensch, wenn man seine Tochter für billige Werbeprospekte und lausig bezahlte Fotoshootings im Stich lässt?

Sie war nie da, als ich eine Frau zum Reden gebraucht hätte. Sie war nie da, wenn Papa Sorgen hatte, die er nicht mal mir anvertrauen wollte. Und sie war nie da, als wir beide unsere Arme nach ihr ausgestreckt haben.

So gesehen braucht sie nicht mehr verlangen, dass ich ihr je wieder meine Hand reiche. Irgendwann ist der passende Zeitpunkt der Vergebung abgelaufen und das Leben geht ohne einander weiter.

Als ich die Haustür aufschließe, begrüßt mich die gähnende Leere, die nicht nur im Flur herrscht, sondern in jedem einzelnen Zimmer. Erinnerungen schmücken die Wände, zwischen denen ich manchmal halb zerdrückt werde.

Es ist unendlich schwer, in diesem Haus irgendwie glücklich zu sein, wenn nur noch der Geist von jemanden hier lebt, den du mal geliebt hast. Der Körper allerdings ist ganz woanders, unerreichbar für jeden. Er ist fort, doch gleichzeitig ist er überall.

Ich gehe zuerst ins Bad, wo ich mir meine bequeme Kleidung überziehe und anschließend in mein Zimmer, die Tür schließe ich hinter mir. Ich öffne meine Haare, die inzwischen ziemlich verknotet und unordentlich sind, und binde sie wieder zu einem lockeren Knoten auf meinem Kopf zusammen, ohne dabei in den Spiegel zu sehen. Dann setze ich mich auf die weiße Lehne meiner Couch, so dass ich direkt aus dem Fenster sehen kann.

Ich beobachte meine Nachbarin, die gerade mit ihren zwei kleinen Kindern nach Hause kommt. Als ihr Mann auf sie zuläuft und sie küsst, sehe ich allerdings weg.

Eine ganze halbe Stunde sitze ich nur so da und versuche in meinem Kopf die Unterrichtsfächer für morgen durchzugehen, doch die junge Blondine in dem schwarzen Kleid macht dies unmöglich. Ununterbrochen sehe ich sie vor mir, als würde sie neben mir sitzen und mich weiter beobachten.

Wer ist diese Frau? Eine neue Lehrerin von uns? Und was hat sie dazu bewegt, mich wahrzunehmen? Werde ich sie überhaupt jemals wiedersehen?

All diese Fragen schwirren nun in meinem Kopf umher und prallen aneinander ab wie zwei gleichgeladene Magnete, die sich nicht verbinden lassen. Ich finde keine Antworten, in meinem Kopf ist nur ein großes Fragezeichen, das mir Kopfschmerzen bereitet.

Ich schaue in den Garten meiner Nachbarn, dann wieder runter auf meine trockenen Hände, die ich nervös aneinander reibe.

Für einen Moment ist mein Kopf völlig leer und nichts tut mehr weh, der Gedanke an ihren ernsten und doch warmen Blick erfüllt mein Herz.

Ich frage mich, wie sie heißt und ob sie sich bei der Fahrt ähnliches über mich gefragt hat. So ein Quatsch, eine Frau wie sie verschwendet keine Gedanken an ein Mädchen wie mich.

Als ich einige Minuten später den Klingelton meines Handys wahrnehme, bin ich beinahe erleichtert. Noch länger hätte ich diese Stille im Zimmer verbunden mit dem Lärm in meinem Kopf nicht mehr ertragen. Sofort springe ich auf und sehe auf das Display: Lucas, mein bester Freund und gleichzeitig die letzte Person, der ich noch mein Leben anvertrauen würde, ohne vorher darüber nachzudenken.

MitternachtsroseWhere stories live. Discover now