Als ich in der zweiten Hofpause von meinem Schließfach komme und mich bereits auf den Weg zu meiner nächsten Stunde machen will, sind die Schulflure inzwischen komplett überfüllt und insbesondere im Foyer herrscht ohrenbetäubender Lärm, weil alle durcheinanderreden.
Schüler aus zahlreichen Jahrgängen tummeln sich im Eingangsbereich, andere stehen in der Ecke und schreiben Hausaufgaben voneinander ab, die Fünftklässler stehen allesamt im Kreis und glotzen auf ein einziges Smartphone hinunter.
Als ich so alt war wie sie, spielte ich noch Gummihopse oder Seilspringen auf dem Schulhof, der überall mit Kreide bemalt worden ist. Und dann regen sich alle auf, dass die Jugend von heute immer verdorbener wird, wenn noch nicht einmal darauf geachtet werden kann, dass die Kinder wenigstens eine halbe Stunde an ihrem zu langen Schultag nach draußen gehen und frische Luft bekommen.
Die großen Schüler drängeln sich nun an den kleinen, die sich noch immer mit großen Kulleraugen umsehen und ihre Klassenräume suchen müssen, vorbei und achten nicht im entferntesten darauf, ob sie jemanden an der Schulter anrempeln oder ihm die Bücher aus den Armen reißen.
Jeder in diesem Gebäude hat es so eilig, dass er nicht auf seine Mitmenschen achtet, sondern egozentrisch durch die Flure huscht und darauf fixiert ist, möglichst schnell in die Cafeteria zu kommen. Schafft man es nicht rechtzeitig, steht man die gesamten zwanzig Minuten der Pause dort. Und natürlich haben gerade wir Abiturienten besseres zu tun.
Dies ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb wir die kleineren beiseite schubsen, als würden sie nicht existieren. Oder wir wollen ihnen zeigen, dass wir diese Hölle hier schon länger ertragen haben und somit den Winzlingen überlegen sind.
So gesehen sind wir doch auf irgendeine Weise alle gleich. Alle sind wir nur ein Haufen bedeutungsloser Schüler, die der Kombination aus ungerecht verteilten Noten, mangelnder Freizeit und zu hoch angesetztem Leistungsdruck standzuhalten haben. Der einzige Unterschied liegt in der Klassenstufe. Bist du klein, wirst du weggedrängt, bist du groß, drängst du die anderen weg.
Unpassender Weise erinnert mich dieses System an die frühere Ständegesellschaft in Frankreich. Je älter du als Schüler wirst, desto höher steigst du auf. Nur bin ich bis heute noch auf der untersten Stufe, weil ich eine der Ausnahmen bin. Die Schüchterne mit den guten Noten und dem toten Vater, so ist das nun mal.
Ich werde mal nicht so weit gehen und sagen, dass es mir als einzige Schülerin dieses Gymnasiums so geht, trotzdem fühlt es sich oft so an. Gefühlt jeder sieht mich an, aber keiner sieht mich. Wahrscheinlich sah auch sie gestern durch mich hindurch.
Das erste Mal an diesem Tage kommen mir erneut ihre welligen Haare in den Sinn, ihre Zigarette, die noch minutenlang auf dem Boden vor sich hin qualmte und ihre Lippen, die sich Sekunden davor noch um diese Kippe schlossen.
Meine Wangen werden schon wieder unkontrolliert heiß, verkrampft umschließe ich drei dicke Bücher, die nicht mehr in meine Tasche gepasst haben und schaue nach unten, geradezu auf den Boden unmittelbar vor meinen Füßen. Meine Schritte werden zunehmend schneller. Möglichst zügig möchte ich zum Matheraum im obersten Stockwerk gelangen, um niemanden zu begegnen.
Fast stolpere ich über einen übergroßen Sportrucksack, der mitten im Gang liegengeblieben ist. Im Vorbeigehen streife ich die Riemen und ziehe ihn ein Stück mit, meinen peinlich berührten Blick senke ich immer mehr.
Meine Geschwindigkeit steigert sich weiter. Ich muss unbedingt nach oben, bevor ich hier jemanden sehe. Hinter mir höre ich ein Mädchen meinen Namen rufen, hektisch schaue ich über meine linke Schulter, aber anstatt stehenzubleiben, eile ich weiter den Gang entlang und suche gleichzeitig hinter mir die Person, die mich rief. Doch da ist niemand.
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Mitternachtsrose
FanfictionAntonia ist siebzehn Jahre alt und sollte sich voll und ganz auf das anstehende Abitur konzentrieren. Nicht nur ihre andauernd gestresste Mama, sondern auch ihre Gefühle machen ihr dies unmöglich. Antonia will mit aller Macht sie selbst sein. Doch w...