Kapitel 2

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Mein erster Tag nach den Ferien zieht sich hin wie Kaugummi und bereits nach der vierten Stunde möchte ich eigentlich schon wieder nach Hause. Jeder Lehrer rattert herzlos seine Belehrung runter und verliert sich minutenlang in unwichtigen Details.

Genervt und auch unendlich müde sitze ich in der vorletzten Reihe des Chemieraums und knabbere an meinem Bleistift, während Herr Krüger, akkurat gekleidet in schwarzer Bügelhose und weißem Hemd, an seinem Tisch sitzt und sich über die Papiere beugt.

Seit etwa zwanzig Minuten erklärt er uns mühselig die Raumordnung, aber da er nie mehr als zwei Punkte auswendig weiß, klebt er förmlich an seinen Unterlagen.

Ich versuche angestrengt, ihm noch meine letzte Kraft an Aufmerksamkeit zu schenken, aber schalte nach der ersten Hälfte der Stunde dann doch ab.

Nachdem er uns anschließend noch vier Seiten mit den Schwerpunkten der vier Kurshalbjahre ausgeteilt hat, erläutert er diese genau so detailliert wie vorhin die Belehrung und ich versuche vergeblich, ihm noch zu folgen und mir Notizen an den Rand zu schreiben.

Das Pochen in meiner linken Brust hängt mich jedoch davon ab, Herr Krügers ausgesprochene Worte auch zu verstehen. Ich bin nämlich viel zu sehr damit beschäftigt, meinen Herzschlag verkrampft beruhigen zu wollen. Doch jeglicher Gedanke, der mich eigentlich entspannen lassen sollte, lässt meinen rasenden Herzschlag nicht langsamer werden und ich habe das Gefühl, zu ersticken. Unruhig fange ich an, auf meinem Stuhl hin und her zu rutschen.

Als unser Lehrer beginnt, von anorganischer Chemie und Substitutionsgleichungen zu reden, schwirrt mir der Kopf und inzwischen bin ich nicht nur unruhig, sondern auch vollends verwirrt.

Ich lege meinen Stift beiseite und massiere mir sanft die Schläfe.

Wie soll ich es nur schaffen, dieses Fach zu bestehen? Demotiviert stütze ich meinen Kopf auf den Händen ab und schaue aus dem Fenster. Herr Krügers Stimme wird gemächlich immer leiser, bis ich ihn nicht mehr hören kann. Ich sehe ihn nur noch im Augenwinkel gestikulieren.

Das Geschehen außerhalb dieses stickigen Raumes hat mich nun vollends in seinen Bann gezogen und ich stelle mir vor, nicht auf diesem harten Stuhl zu sitzen, sondern draußen auf der Wiese vor unserer Schule, direkt unter dem schattenspendenden Ahornbaum, dessen Blätter sanft im Wind wehen.

Ein Schwarm von Vögeln sitzt in den Ästen und ich kann sie leise zwitschern hören, was für mich ungemein entspannend ist. Mein Herzschlag beruhigt sich ein wenig und meine Gedanken schweifen zu den Sommernächten draußen mit meinem Vater zurück.

Oft saßen wir gemeinsam an unserem Teich, beobachteten die Fische und am Abend, wenn es bereits dunkel geworden war, machte er die Feuerschale an. Dann nahm er mich auf den Arm und hielt mich ganz fest an sich gedrückt, als würde er mich vor jeglichen Gefahren der Welt beschützen müssen.

Wir beiden konnten uns minutenlang anschweigen, ohne dass es einen von uns unangenehm wurde. Papa und ich sind nie die großen Redner gewesen, doch trotzdem kannten wir einander auswendig.

Wenn wir am Feuer saßen, wurde die Stille nur vom leisen Knistern der Flammen durchbrochen. Als Kind fand ich es immer wahnsinnig spannend, wie sich die Flammen bewegten, ohne von etwas angetrieben werden zu müssen.

Ich weiß auch nicht, warum, aber irgendwie fühlte ich mich bei dessen Anblick immer wie in einer anderen Welt voller Magie. Eine Welt voller Hexen, Feen, Prinzen und Drachen, in die ich entfliehen konnte, wenn mir der Alltag zu viel geworden war.

Ich wünschte, wir hätten in den Naturwissenschaften nie gelernt, dass diese mystischen Wesen lediglich brennende Gase sind, die in den Himmel aufsteigen. Als ich diesen Fakt in der siebten Klasse zum ersten Mal gehört habe, brach meine kleine Traumwelt für einen Augenblick zusammen.

MitternachtsroseWhere stories live. Discover now