sechsunddreißig

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Ich war schon seit 2 Tagen im Krankenhaus. Emmett und mein Vater waren bei mir so oft es ging, doch ich wollte nicht, dass sich ihr Leben jetzt komplett um mich drehte. Ich verstand endlich, wieso meine Mutter sich immer mehr von uns abgeschottet hatte, wenn sie im Krankenhaus sein musste. Was ich nicht verstand war, wie sie so glücklich sein konnte. War sie es denn überhaupt? Oder hatte sie für uns nur so getan? Damit es für uns erträglicher war? Mein Handy vibrierte. Eine Nachricht von Noah. Er wollte immer noch wissen, was der Arzt gesagt hatte. Meine Erklärung an ihn war wirklich mager gewesen, doch ich wusste nicht was ich hätte tun sollen.

Sie wissen nicht genau was es ist. Bestimmt nichts schlimmes. Mir geht es gut. meinte ich zu ihm, als er vor 2 Tagen angerufen hatte. Das war wohl die größte Lüge meines Lebens gewesen. Es war Lungenkrebs. Es war schlimm. Und mir ging es verdammt noch mal nicht gut!

Aber das letzte, was ich wollte war, dass es ihm wegen mir schlecht ging. Also log ich ihn lieber an, als ihn mit mir runter in diese endlose Spirale depressiver Gedanken und letztendlich ins Verderben zu ziehen, so wie ich es schon mit meinem Bruder und meinem Vater tat. Immer mehr verspürte ich den Drang mich von den Schläuchen und Geräten los zu reißen und einfach weg zu rennen. Ich sah keinen Sinn mehr darin länger das eintönige, gleichmäßige Piepsen der Geräte in meinem Zimmer zu hören. Ich wusste, dass es langsam aber sicher mit mir zu Ende gehen würde. Ich wusste, dass mein Leben vorbei war. Doch die Ärzte meinten ich war stark, sollte weiter guter Dinge sein und Geduld haben. Geduld? Worauf sollte ich denn warten? Auf meinen Tod? Deprimiert beobachtete ich die Krankenschwestern, die hastig eine Liege durch die Gänge schoben, die Angehörigen, die bitterlich um den Verstorbenen weinten, die Ärzte, die angestrengt versuchen das Leben der Kranken zu retten und da wurde es mir nach und nach klar: Irgendwann würden wir alle sterben. Und unser Leben lang taten wir nichts anderes, als auf den Tag zu warten, an dem es passierte. Das Ende. Die Dunkelheit. Das vollkommene, aber unvermeidliche Nichts, auf das wir alle geradewegs zusteuerten.

Plötzlich kam es mir nicht mehr allzu schlimm vor. Mir passierte etwas, dass alle hier erwartete. Doch das Gefühl langsam von innen nach außen heraus abzusterben machte mir Angst. Es frustrierte mich, dass ich nichts dagegen tun konnte. So sehr, dass ich am liebsten einfach schreien würde. Doch wenn ich das täte, dann würde sich jeder nur Sorgen um mich machen, mich fragen ob ich Schmerzen hätte, von mir verlangen, dass ich weiterhin stark bleiben sollte. Aber für was denn? Für meinen Abschluss? Für ein unvollkommenes Leben? Vielleicht für meine Familie, für Noah. Oh Noah... wie konnte ich ihm so etwas nur antun? Solche egoistischen Gedanken. Wie konnte ich es auch nur eine Sekunde in Erwägung ziehen, dass es nichts gab für das es sich zum Leben lohnte. Das gab es. Er war der Grund wieso ich mich nach so langer Zeit endlich mal wieder richtig lebendig gefühlt hatte. Mit Noah an meiner Seite war alles einfacher, besser, ich fühlte mich leichter. Als würde er all meinen Ballast mit sich tragen, damit es mir besser ging. Er war die Verkörperung des reinen Guten. Ich hatte noch nie jemanden mit einer so wunderschönen Seele getroffen wie ihn. Und die Gedanken an ihn und unsere Distanz begannen mein Herz langsam und schmerzvoll in winzige kleine Stücke zu reißen.

Alles was ich jetzt noch wollte war, dass mein Freund neben mir saß. Der gute Junge von nebenan, der mir immer kleine, aber süße Nachrichten schrieb, der immer wusste, was er sagen musste und immer ehrlich zu mir gewesen war. Egal wie schmerzhaft es war es einzusehen, aber Noah war mein Seelenverwandter und genau deshalb hatte ich keinerlei Recht und auch nicht das Verlangen in hier mit rein zu ziehen. Meine Lunge fühlte sich plötzlich an, als würde sie sich mit Wasser füllen und erschwerte mir das Atmen. Hilflos griff ich an meinen Hals und schnappte erfolglos nach Luft. Das vertraute, eintönige und gleichmäßige Piepsen änderte sich in ein hektisches und scheinbar unkoordiniertes Dröhnen. Sofort brach überall in meinem Zimmer Chaos aus. Ärzte und Krankenschwestern umringten mich, drückten Knöpfe, holten wichtige Utensilien und behandelten mich.

Alles schien so Wirr zu sein, doch eines wurde mir in diesem Moment klarer als alles zuvor. Ich hatte keine andere Wahl. Wenn ich das hier überleben würde, dann musste ich Noah verlassen.


The Boy Next DoorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt