Es war bereits dunkel, als er das Tal erreichte, welches eingebettet zwischen zwei Ausläufern des nördlichen Weltgebirges lag. Entlang des westlichen Randes des Tals, an den Gebirgsflanken, verlief ein breiter, zäh-fließender Fluss: Die Lea. Zahlreiche Flöße, schwarze Schemen vor dem Hintergrund des tiefen Wassers, trieben auf ihr nach Süden, bis zur Küste. Der Großteil des hügeligen Tals war mit Bauernfeldern gefleckt, nur einzelne Fichten und kleine Wäldchen stachen aus dem im Wind leicht wogenden Getreidemeer hervor.
Doch im hintersten Winkel des Tals lag Himmelstein. Die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz ruhte behäbig unter dem Schatten der monumentalen Berge im Norden - Häuserreihe über Häuserreihe. Hunderte flackernde Lichter, die von den Kupferdächern der Häuser vielfach reflektiert wurden, grüßten das nächtliche Tal wie brennende Sterne. Aufgrund ihrer erhöhten Lage an der Bergflanke konnte man sie bei Nacht schon vom Waldrand aus erkennen. Trotz des Korbes auf seinem Rücken war es für ihn kein schwerer Aufstieg, da er den Fluss entlangging, wo der Weg nur selten über Hügel führte.
Auf dem Weg durch den Wald hatte er sich sehr beeilt, aus Angst vor den beiden Kriegern, die ihn in der Hütte überrascht hatten und aus Sorge um Oma. Er musste etwas unternehmen! Und er wusste auch schon, wen er um Hilfe bitten würde. Die gepflasterte Straße wand sich leicht, dem Flussverlauf folgend. Er begegnete keiner Menschenseele, nicht einmal einer Patrouille: Es war friedlich. Als er endlich an der Stadtmauer ankam, musste er nur klopfen, um durch eine kleine Tür im riesigen, hölzernen Flügel des Tores hindurchgelassen zu werden.
„Er segne dich, Junge", hauchte ihm der Torposten entgegen: Ein schlanker Schemen, der entspannt in einer Mauernische lehnte. Das trübe, goldene Licht einer Eiförmigen Buntglas-laterne erhellte kurz das Gesicht: Es war ein älterer Mann mit eingefallenem Gesicht, ein munteres Lächeln entblößte ein unvollständiges Gebiss. Höflich grüßte er ihn zurück: „Isgaad mit dir."
In der Stadt waren nur wenige Menschen auf den Beinen: hauptsächlich kleine Gruppen von Nachtschwärmern, die laut lachend durch die Straßen torkelten, betrunken von importiertem Wein. Gelegentlich kam es zu kleineren Beschwerden: Mal waren die Gruppen den übrigen Bewohnern zu laut, mal gab es Streit zwischen den Gruppen - insbesondere, wenn zwei Gruppen unterschiedlicher Stände aufeinandertrafen -, doch alles in allem waren sie von der Stadtwache und den Menschen geduldet.
Nachdem er den schlafenden Marktplatz überquert hatte und mehrere Treppen hinaufgestiegen war, befand er sich nun in den oberen Stadtvierteln. Hier waren nur Soldaten auf den Straßen, während die nachtaktiven Bewohner ihren Wein lieber in heckenumzäunten Gärten genossen.
Schließlich blieb er vor einem Haus mit weiß getünchten Wänden stehen, welches direkt an der Bergflanke lag. Es besaß mehrere Türmchen und Erker, die aus dem Fels hinauszuwachsen schienen, und war - wie in Himmelstein üblich - mit Kupferblech bedacht. Die schwere, säulengerahmte Eichentür mit gewundenen Schnitzarbeiten und kunstvollen Drachenklopfern aus Eisen ließ keinen Zweifel daran, dass hier einer der wohlhabendsten Adeligen der Stadt residierte: Gwerion, sein bester Freund.
„Und was hast du dann gemacht?" Gwerion sah ihn mit großen, schwarzen Augen an. Er trug einen ebenso schwarzen, seidenen Schlafmantel, der vom Hals bis zum Bauch geöffnet war, und hatte sich in eine mit Stoffkissen ausgelegte, geräumige Nische im Fels gesetzt. Er hatte eine sehr tiefe, angenehm klingende Stimme, dabei war Gwerion genauso alt wie er. Sein Körper war schlank, jedoch kräftig, und seine Körperhaltung stets selbstbewusst - trotz seines jungen Alters war Gwerion Gegenstand vieler Fantasien von Frauen aus der Oberstadt, doch soweit er wusste, hatte er sich noch nie auf eine eingelassen. Wie er selbst war der junge Adelige ohne Eltern aufgewachsen. Eine tiefe Freundschaft verband sie, seit er denken konnte, und doch fühlte er sich Gwerion gegenüber stets unterlegen. In seinem einfachen Leinenhemd, der Jutehose und in geflochtenen Sandalen fühlte er sich schäbig in der luxuriösen Behausung seines Freundes.
„Naja ... ich bin hierher geflohen."
„Nicht gerade sehr ritterlich, Tao!", schnaubte der große, dunkelhaarige Junge, „Ich hätte mir eines der Schwerter gegriffen und die Schurken getötet."
„Ich ..." Taoreth wollte sich verteidigen, doch Gwerion hatte Recht: Er hätte mehr wagen können, um Oma zu retten.
„Ist schon gut, ich bin froh, dass du wie ein Feigling vor einem alten Mann und einer Frau weggelaufen bist, sonst wärst du jetzt vermutlich auch entführt worden und ich müsste euch beide retten." Gwerion hatte manchmal eine merkwürdige Art, seine Freundschaft auszudrücken. „Ich habe einen Verdacht, wo sie ist. Keine Sorge, wir werden sie finden und dafür sorgen, dass sie freikommt."
Er hatte noch nichtmal um Hilfe gebeten, doch für seinen Freund war es eine Frage der Ritterlichkeit, ihm zu helfen. „Danke", brachte Taoreth leise hervor, „Ich weiß deine Hilfe zu schätzen."
„Ach, ich bin dankbar für etwas Abwechslung - ich langweile mich sonst nur. Ich habe bald alle Bücher aus der Bibliothek des Hauses durch und Roderic ist zu alt, um noch ein würdiger Gegner beim Fechten zu sein."
„Jetzt übertreib mal nicht. Du führst ein Leben, das weit aufregender ist, als meins. Du musst nicht eine Stunde im Umlauf arbeiten, kannst dich nach Belieben mit einem ehemaligen Waffenmeister des Fürsten im Schwertkampf üben und bist auf jedem der so berühmten Feste der Oberstadt willkommen. Und ... meinst du das eigentlich ernst? Du hast alle Bücher deines Vaters gelesen?"
Gwerion, der eilig zwischen seinen vielen Kleidungsschränken hin und her lief, zuckte mit den Schultern, „Naja, alle interessanten zumindest. Glaub mir, man lernt dadurch weitaus mehr, als bei den wöchentlichen Predigten der Priester. Und die Feste sind langweilig - du ahnst nicht, wie einfältig und ungebildet die adelige Gesellschaft Himmelsteins sein kann. Jetzt noch die Schuhe! Wie auch immer: Ich werde dir gleich einen Verbündeten vorstellen, der uns helfen kann, Oma zu befreien. Die Soldaten trugen das Wappen der Kirche, sagst du? Dieser Verbündete wird uns mit größter Freude helfen. Gehen wir!"
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Meister des Chaos I - Schwerter und Zorn
FantasyDas Vyrtanische Imperium befindet sich im Umbruch: Fürsten lehnen sich gegen den Kaiser auf, Priester lassen Magier jagen und Bauern wollen die alte Ordnung stürzen. Taoreth, ein einfaches Waisenkind, das sich als Schmiedegehilfe verdingte, war von...