Der Hof Elchbrunn lag in Sichtweite von Himmelstein in einer Flussschleife der Lea. Es war eher ein kleines Dorf als ein großes Gehöft und bestand aus drei Wohnhäusern, einem halben Dutzend Scheunen und mehreren Ställen. Der Meisterbauer, ein junger Mann mit auffälligem Buckel, der mit seiner Familie das größte Haus bewohnte, zeigte sich empört über die neue Eingangssperre nach Mitternacht und nahm Telzion und dessen zwei „Söhne" bereitwillig auf.
Sie wurden großzügig auf einen üppigen Mitternachtsschmaus im recht geräumigen Küchenraum des Haupthauses eingeladen, an dem sogar die beiden untersetzten Frauen des Bauers teilnahmen. Nachdem sie genug von dem dunklen Brot, der fettigen Butter und dem würzigen Käse hatten, wurde sogar Wein in einer Eisenkaraffe herumgereicht. Selbst Taoreth, der bis dahin noch nie Alkohol probiert hatte, nahm einen Schluck. Er schmeckte betörend süß und hinterließ ein klebriges Gefühl im Gaumen – es war bestimmt nicht der beste. Trotzdem bedankte er sich artig, wie auch Gwerion und Telzion, für Speise und Trank.
„Das ist doch selbstverständlich!", kicherte die Frau links des Meisterbauern, die stämmigere der beiden, „Und so oft haben wir ja hier keine Gäste aus der Stadt. Da muss man die Gelegenheit nutzen, um mit dem Vorurteil aufzuräumen, hier auf den Feldern herrschte Hunger, Elend und Eigennützigkeit."
„Ich zeige euch jetzt, wo ihr schlafen könnt", meinte ihr Mann gut gelaunt und griff nach einer Talglampe, um ihnen den Weg zu leuchten. Sie folgten ihm zunächst durch einen kurzen Korridor und dann nach oben über eine steile Treppe, die kaum eine bessere Leiter war. Das Dachgeschosszimmer, in dem sie schließlich ankamen, bot gerade genügend Platz, dass sie nicht aufeinanderliegen mussten.
„Bittesehr, das Heiligtum meiner Kindheit", grinste ihr Gastgeber, „Ich lasse Minuette noch einige Decken holen, gute Nacht schonmal!"
Taoreths Schädel brummte noch immer von den Ereignissen des Umlaufs - sofort sank er auf die eine Strohmatratze nieder und verfiel in tiefen Schlaf. Draußen kündigte sich ein wütender Herbsturm an, doch er störte seine Ruhe nicht.
Als er nach vielen, konturlosen Träumen aufwachte, waren Gwerion und Telzion schon in ein leises Gespräch versunken.
Diesmal war er fest entschlossen, Telzion endlich mit der Frage zu konfrontieren, was es bedeutete, mondaffin zu sein.
„Ah, guten Morgen. Oder sollte ich eher sagen: Guten Umlaufsmitt?", grinste sein dunkelhaariger Freund fröhlich, während Telzion ihn mit seiner strengen Falte bloß anstarrte – seltsam abwesend. In dem spärlichen Licht, welches aus einem winzigen Holzladen im schrägen Dach fiel, wirkte das Gesicht des Magiers wie das einer Eule.
„Ehm ... Was ist eigentlich Mondaffinität? Bin ich ein Magier?"
„Später, Tao. Wir haben gerade Dringenderes zu besprechen: So, wie es aussieht, kann unser Blitzkünstler hier, seitdem er heute aufgestanden ist, keine Magie mehr wirken. Kein Gedankenlesen mehr, haha!"
„Das ist kein Spaß, Gwerion!" Der Magier war kreidebleich. „Die Wunde heilt gut, ich konnte noch Magie wirken, als sie schlimmer war, daran kann es also nicht liegen. Das lässt nur den Schluss zu, dass der Bolzen vergiftet war – mit einem besonders heimtückischen Gift, dass erst nach ein paar Stunden wirkt, offenbar speziell gegen Magier. Ich fühle mich auch nicht gut ... wir müssen dringend einen Heilkundigen aufsuchen! Doch nicht irgendeinen Quacksalber, sondern einen, der sich auskennt. Hmm ..."
Die Situation war besorgniserregend, denn in die Stadt konnten sie erstmal nicht gelangen. Gwerion und Telzion wurden dort sicherlich schon gesucht.
„Was zum Zarkas...", Telzion, der bisher gesessen hatte, versuchte, sich in der winzigen Dachkammer aufzurichten, doch fehlte ihm dafür anscheinend die Kraft. „Meine Beine gehorchen mir nicht mehr! Helft mir!"
Doch nichts half. Egal, wie sehr sie sich auch anstrengten, den Magier hochzuhieven. Seine Beine baumelten nutzlos herab und Telzion war zu gewichtig, um durch zwei Jungen ohne Hilfsmittel dauerhaft getragen werden zu können.
„Mei ... Meie Thunge!", kam es von Telzion, der nun, hilflos auf dem Boden sitzend, mit den Armen unkoordiniert herumwirbelte, „Ih ka meie Thunge nithtmehr spüre!" Nackte Panik stand dem Magier ins Eulengesicht geschrieben.
„Wir bringen dich in die Stadt!", beschwor ihn Gwerion.
„Neiiin! Thu hrefährich. Brie mi thu de Eiben!"
„Wir können nicht einfach in die Elbenwälder hineinspazieren. Du weißt, dass die Elben ihre Grenzen scharf bewachen", warf der Dunkelhaarige ein.
„Zhie weren mir hefen. Ghaub mir."
Taoreth verstand nicht, wie der Magier zu den Elben wollen konnte: „Seid ihr verrückt geworden? Wir reden hier von Elben. Dienern von Zarkas! Die mit ihrer Magie für schlechte Ernten und Krankheiten sorgen, die Neugeborene stehlen und durch ihre eigenen ersetzen, die mit Kobolden bösartige Streiche und ..."
„We isch kötte, wür isch em ei Bizz i de Wascheropf scheuer!"
„Was Telzion damit sagen möchte", mischte sich Gwerion dazwischen, „ist, dass das bloß Kindermärchen sind. In Wirklichkeit verhalten sich die meisten Elben sehr friedfertig."
„Oh! Wirklich? Dann hast du also schonmal einen getroffen?"
„Naja ... nicht wirklich. Aber ich habe von ihnen gelesen. Sie sind angeblich ein sehr naturverbundenes Volk, sehr primitiv. Sie kleiden sich in unbearbeitete Felle und hangeln sich bei der Jagd von Baum zu Baum, aber einem Menschen sollten sie nichts tun."
Der Magier keuchte plötzlich in Atemnot – nein, er lachte! Er lachte lange und unkontrolliert, mit zuckenden Schultern und mit einem plötzlichen Husten als Finale. „Isch bi ei bischen verwuner, ass deie Büfer geauscho schech sin, wie ie Tempeschue! Scheich Thunge!", fluchte er, womit sein plötzlicher Anflug von Heiterkeit endgültig verschwunden war.
„Ich ... würde Elben schon gerne sehen", wurde Taoreth plötzlich klar, „Aber ich werde auch Großmama nicht im Stich lassen. Ich muss nach ihr suchen, und am besten kann ich das in Himmelstein."
„Unsinn, Tao. Wo willst du überhaupt wohnen? In meinem Haus ist es viel zu gefährlich und in deiner alten Waldhütte erst recht. Wir können von Glück reden, wenn unser Gastgeber uns mit etwas Proviant für die Reise zu den Elbenwäldern versorgt. Außerdem wird Telzion dir sicher bei deiner Suche helfen, sobald er wieder bei Kräften ist. Wenn ich es mir recht überlege: Für ein paar Stücke vom Silber deiner Großmutter wird man uns hier großzügig ausstatten – wir können es bis zur Grenze schaffen!"
Das alles klang einleuchtend, doch irgendwie hatte Taoreth den Verdacht, dass es Gwerion bloß darum ging, Abenteuer zu erleben. Außerdem schien es zweifelhaft, ob der alte Telzion je wieder würde zaubern können.
Doch genau darauf musste er hoffen. Er stand außerdem in der Schuld des Magiers, auch wenn dieser mit seinem Versuch, seine Großmutter zu befreien, bisher erfolglos geblieben war.
„Alsogut – gehen wir zu den Elben."
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Meister des Chaos I - Schwerter und Zorn
FantasyDas Vyrtanische Imperium befindet sich im Umbruch: Fürsten lehnen sich gegen den Kaiser auf, Priester lassen Magier jagen und Bauern wollen die alte Ordnung stürzen. Taoreth, ein einfaches Waisenkind, das sich als Schmiedegehilfe verdingte, war von...