Kapitel 2

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"Ms Gilligan? Ms Gilligan! Wachen Sie auf!" Diese Stimme kannte ich nur allzu gut, leider. Sie war so laut und schrill, dass meine Ohren klingelten.
   "Was...?", fragte ich noch völlig verwirrt, zuerst musste ich mich orientieren. Ich öffnete meine Augen und sah einen lichtdurchfluteten Raum, hörte ein paar Leute kichern und roch die stickige Luft, die nie aus diesem Raum entwich. Gerade vor mir an der Wand hing eine vollgeschriebene alte Tafel, und rechts neben mir... Oh, nein!
   "Haben wir da ein bisschen zu wenig geschlafen?", fragte Mrs Rumsey höhnisch, ihre Stirn war verärgert in Falten gelegt und ihr Blick durchbohrte mich.
   "Nein, Mrs Rumsey", versuchte ich noch mich zu verteidigen.
   "Das sieht aber anders aus", schoss sie sofort zurück. Aus der hinteren Ecke kam Gelächter. "Und? Haben Sie zumindestens eine Lösung für die Aufgabe?"
   Ich lenkte meinen Blick auf die Tafel und versuchte das zu entwirren, was die Lehrerin während meines Nickerchens an die Tafel geschrieben hat. Erklären Sie, welche Wege Kant aus der Unmündigkeit vorschlägt und inwieweit diese realisiert werden sollten. Ich seufzte tief und betrachtete das Blatt, was vor mir lag. Aufklärung sagte mir die Überschrift, die Mrs Rumsey über den Text setzte. In solchen Momenten fragte ich mich, ob die Leute, die den Lehrplan erstellen, uns nicht einfach nur quälen wollen.
   "Erhalte ich heute noch eine Antwort?", hakte Mrs Rumsey nach und fixierte mich mit ihren Blicken. Der Teufel in Person.
   "Also..."
   "Haben Sie den Text denn gelesen, so motiviert wie Sie heute sind?" Wieder Lachen auf den billigen Plätzen.
   Ich atmete tief durch und sortierte meine Gedanken, rief die Wörter, die Sätze, den Inhalt in mein Gedächtnis zurück. "Nun ja, Kant behauptet, dass der Mensch es von alleine schaffe, aus der Unmündigkeit zu entfliehen. Es würden sich irgendwann immer Leute finden, die sich aus der Routine des 'Für-sich-denken-lassens' lösen und anfangen, Dinge zu hinterfragen. Diese würden auch andere dazu bringen, selbst zu denken." Stolz richtete ich mich ein Stück auf und musste mir ein Lächeln verkneifen. Sie kann versuchen mich reinzulegen, aber dumm bin ich nicht. "Nur in Religionsdingen sollte man das Hinterfragen eher lassen", fügte ich dann noch hinzu, um auch die zweite Hälfte der Aufgabe abzudecken. Manchmal bin ich nicht ganz bei der Sache, das gebe ich zu. Aber so ganz abseits bin ich auch nicht.
   "Glück gehabt, Ms Gilligan", gab sie widerwillig zu und richtete sich dann an die Klasse. "Wenn Sie alle so auf die Frage hätten antworten können, dann dürften Sie auch im Unterricht schlafen... Oder wir wären endlich auf dem Laufenden mit dem Schulstoff. Ergänzungen?" Damit wandte sie ihren Blick ab, aber nicht ohne noch ein paar Giftpfeile auf mich zu schießen.
   Erleichtert lächelte ich. Ja, ich sollte nicht im Unterricht schlafen, sondern aufpassen. Ja, ich weiß, dass es so nicht gehen kann. Ja, vielleicht passierte das in der letzten Zeit etwas zu oft. Jedoch hatte ich bisher immer auf alle Fragen antworten können, die die Lehrer mir stellten. Mrs Rumseys Gesichtsausdruck gefiel mir dabei immer am besten.
   "Gut gerettet", flüsterte Dean. Unauffällig drehte ich mich zu ihm, auch er konnte sich ein Lächeln kaum verkneifen. "Das ist ein großes Talent."
   "Danke, danke", antwortete ich.
   Und dein Talent ist es, mich immer zum lachen zu bringen, fügte ich still hinzu. Dean und ich kannten uns noch nicht so lange, aber manchmal fühlte es sich so an, als wären wir Zwillinge. Er weiß immer, wie ich mich gerade fühlte und heiterte mich auf, wenn es mir schlecht geht. Wer weiß, vielleicht kennt er mich mittlerweile sogar besser als ich mich selbst.
   "Du hast echt nicht viel verpasst", fuhr er dann fort. "Ein paar Leute haben sich an der Frage probiert, aber du weißt ja, wie es läuft. Eine rege Beteiligung kann man das nicht nennen."
   "Bei dem Intelligenzquotienten ist das nicht verwunderlich." Das war noch sehr charmant ausgedrückt. Es gab auch Schüler, die nicht auf den Kopf gefallen sind, aber gerade die letzte Sitzreihe würde vermutlich sogar gegen ein Toastbrot verlieren. Ein guter Grund, nicht mit ihnen befreundet zu sein, und mit den anderen habe ich wenig zu tun. Zum Glück gab es Dean, er hat mich von Anfang an verstanden.
   "Gut, gleich wird es klingeln. Bitte bearbeiten Sie noch Aufgabe zwei und drei zur nächsten Stunde", sagte Mrs Rumsey abschließend und entließ uns in die Pause.
   "Wir haben es überlebt", erklärte ich feierlich.

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