Kapitel 14

14 1 0
                                    

Manchmal liebe ich den Herbst. Seine Farbenpracht ist unvergleichlich, genauso wie der letzte warme Wind, ein Abschiedsgruß des Sommers. Doch an diesem Morgen zeigt er sich von seiner im wahrsten Sinne des Wortes kalten Seite. Über Nacht sind die Temperaturen bis fast auf den Gefrierpunkt gesunken und Nebel lässt meine Kleidung klamm werden. Ich kann kaum meine Hand vor Augen sehen. Zumindest hat der Nieselregen endlich nachgelassen. Gedankenverloren trottete ich zur Schule und hoffte, dass später vielleicht auch noch die Sonne herauskommt.
   Gerade bog ich um die Ecke, da raschelte etwas hinter mir. Ruckartig drehte ich mich um, doch dort war nichts. Um ehrlich zu sein, selbst wenn dort etwas gewesen wäre, hätte ich es durch den Dunst nicht gesehen. Ich wartete noch einen Moment, dann drehte ich mich um und ging weiter.
   "Charlotte", flüsterte eine Stimme hinter mir. Wieder schnellte ich herum, versuchte etwas, irgendetwas zu fokussieren, aber es war unmöglich. Reiß dich zusammen. Jetzt hörte ich schon auf dem Weg zur Schule Stimmen. Das könnte auch aus einem schlechten Horrorfilm stammen, die Kulisse hätte Hollywood nicht besser inszenieren können. Ich schüttelte den Kopf und setzte meinen Weg fort.
   Sekundenlang war es still und ich konzentrierte mich darauf, auf dem Weg zu bleiben. Unvorhergesehen sprang etwas auf mich zu. "Ahh!", schrie es und stand keinen halben Meter aufgebäumt vor mir. Mir blieb das Herz stehen, ich zog scharf die Luft ein und setzte einen Schritt zurück. Abwehrend hielt ich die Hände vor mein Gesicht, musste das Etwas aber sofort wieder beäugen. Und für einen Moment dachte ich, ich wäre verrückt, dass irgendetwas mich verfolgt. Doch dann, als ich genauer hinsah, erkannte ich Dean, der sich das Lachen kaum verkneifen konnte.
   "Warum so verschreckt?", ärgerte er mich. "Dachtest du, ich bin der böse Mann höchstpersönlich?"
   Einerseits war ich erleichtert, dass es wirklich nur Dean war, aber dieses Gefühl verflog schnell. Ich war verärgert, dass er mich erschreckt hatte, er hätte jeder -alles- sein können. Was dachte er sich auch nur dabei? Mein Herzschlag beruhigte sich langsam und ich atmete tief durch. "Nicht witzig", brachte ich leise hervor.
   "Ach komm schon, Charly", erwiderte Dean und trat ein Stück zurück. "Verstehst du keinen Spaß mehr?"
   "Im Moment nicht", sagte ich giftig und wollte weitergehen, um nicht noch zu spät zu kommen.
   "Ich habe es nicht so gemeint, und es ist ja nichts passiert." Er sah mich mit einem Hundeblick an, dem nicht einmal ein Dackel widerstehen könnte.
   Letzendlich gab ich nach und musste selbst lächeln. Unkreativ war seine Idee schließlich nicht. "Alles in Ordnung. Aber wir sollten uns beeilen." Dean nickte mir zu und wir hechteten davon.

Wir sind genau in dem Moment durch die Tür gestürmt, als es klingelte, und rechtzeitig saßen wir am Platz. Unsere Spinde lagen glücklicherweise auf dem Weg, sodass wir rechtzeitig im Klassenzimmer saßen.
   "Und? Bereit?", fragte Dean, der neben mir saß.
   "So bereit, wie man morgens nur sein kann", entgegnete ich und setzte meine motivierteste Miene auf, rang mir sogar ein kleines Lächeln ab.
   Die Tür schwang nur wenige Sekunden später auf und meine absolute Lieblingslehrerin, Mrs Rumsey, trat ein. Sie lächelte breit, aber ihre Augen waren kalt und grausam. Mir lief ein Schauder über den Rücken. Wenn der Teufel persönlich sie als Botin anheuern würde, würden seine Botschaften immer ankommen. Lautstark ließ sie ihre Materialien auf das Pult fallen, einige Köpfe schreckten hoch. "Guten Morge, Klasse!" Ich war nicht die einzige, die einen sehnsüchtigen Blick auf die sich schließende Tür warf. Wir hielten uns stets an dem Gedanken fest, dass die Freiheit nur eineinhalb Stunden entfernt lag, geschweige denn wir verbrachten den halben Nachmittag mit Hausaufgaben. 
   "Gut, wer kann wiederholen, was wir letzte Stunde erarbeitet haben?" Sie suchte mit ihrem Blick die Klasse ab, alle schauten weg oder duckten sich. "Michael? Würden Sie uns die Ehre erweisen?" Wie erwartet reagierte er nicht, seine Augen waren fest nach unten gerichtet und reflektierten bläuliches Licht. "Michael? Es würde mich sehr freuen, könnten Sie meinem Unterricht beiwohnen."
   Langsam erwachte die Klasse zum Leben und starrte neugierig auf die letzte Reihe. Einige hielten die Hände vor den Mund und verkniffen sich ein schadenfrohes Lachen.
   Anscheinend bemerkte Michael die Blicke und schaute sich verwirrt um. "Was ist los?"
   "Da Sie jetzt auch geistig anwesend sind, könnten Sie unsere Lernerfolge der letzten Stunde darlegen?" Herausfordernd sah sie ihn an und ihr Lächeln wurde breiter.
   "Wenn es sein muss." Augenrollend nannte er ein paar Apekte und ließ sich den Rest durch Rumsey aus der Nase ziehen. Wenn es einen Schüler gab, den Rumsey weniger mochte als mich, dann war das Michael. Tatsächlich war ich deswegen nicht gerade traurig.
   Danach widmeten wir uns wieder diesen wundervollen Philosophen, Gedichten, Poesie... Interessant und interaktiv unterrichtet wäre das bestimmt ein sehr schönes Thema. Aber ich bin mir sicher, die großen Dichter drehen sich im Grab um, würden sie das hier anhören müssen. Schlimmer ging es nicht. 
   Langsam drifteten meine Gedanken fort, weg vom Unterricht, weg von meinem Sitzplatz. Ich war irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit. Sprunghaft zogen Gedankenfetzen an mir vorbei, die verschwanden, sobald ich sie festhalten wollte. Ich stützte meinen Kopf auf die Hände und ließ die Zeit vergehen, doch die Welt schien in Zeitlupe zu funktionieren. Was ich heute wohl noch an Hausaufgaben machen muss? Ob Deans Mutter sich an den Gips gewöhnt hat? Wann gibt es wohl wieder einen goldenen Herbsttag? Was...

Du hast das Ende der veröffentlichten Teile erreicht.

⏰ Letzte Aktualisierung: Jul 29, 2019 ⏰

Füge diese Geschichte zu deiner Bibliothek hinzu, um über neue Kapitel informiert zu werden!

NightmareWo Geschichten leben. Entdecke jetzt