Kapitel 4

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Dean hatte es geschafft innerhalb von einer halben Stunde knapp zweihundert Fotos zu schießen. Dementsprechend mühsam war das Aussuchen der besten Bilder. Trotzdem schafften wir es, die schönsten Perspektiven in akzeptabler Zeit zu bestimmen, die Feinarbeit übernahm Dean. Gegen Mittag verabschiedete ich mich und machte mich auf den Heimweg.
   "Hallo, meine Kleine", begrüßte Mom mich, als ich noch halb in der Tür stand. "Wie war dein Tag?"
   "Alles super", antwortete ich.
   Skeptisch lächelnd zog sie eine Augenbraue hoch. "Alles super."
   "Mom?" Natürlich erwartete sie sich mehr als nur ein 'alles super' von ihrer Tochter, obwohl es sie genau genommen nicht allzu viel angeht, was wir gemacht haben.
   Dad kam gerade die Kellertreppe hinauf, ein Geschirrtuch lag über seiner Schulter und er beäugte eine Packung eingelegte Tomaten. "Hey, wie war's?" Er zwinkerte mir breit grinsend zu.
   "Alles gut, wie immer", erwiderte ich. "Ich habe schließlich nicht zum ersten Mal bei Dean übernachtet."
   "Habt ihr eure Fotos schießen können?" Zumindest eine sinnvolle Frage, dank Dad. Er sah die ganze Sache viel entspannter als Mom.
   "Ja, die Bilder sind toll geworden. Wir waren im Wald und haben ein Tal voller Bäume fotografiert. Ich zeige dir die Bilder, wenn Dean sie ausgedruckt hat."
   "Darum bitte ich." Damit verschwand er in der Küche, gefolgt von einem: "Mist, wo habe ich denn...? Ach, da!"
   "Denkst du, es ist eine gute Idee, Dad die Küche allein zu überlassen?", fragte ich Mom.
   "Bis jetzt schlägt er sich ganz gut und solange er danach alles wieder sauber macht, darf er sich austoben."
   "Das habe ich gehört!", schallte es aus der Küche und Mom und ich mussten anfangen zu lachen.
   "Ihr wart also im Wald? War es schön?"
   "Mom, es war für die Bilder, mehr nicht", entgegnete ich störrisch, aber ich spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg.
   "Nur ein Freund, dein Dean?" Verschmitzt grinste sie mich an.
   "Er ist nicht mein Dean, und ja, wir sind nur Freunde." Wohlwollend nickte sie, aber dieser wissende Ausdruck verlor sich nicht. "Ich rufe dich dann, wenn das Essen fertig ist."
   Damit nahm ich meine Tasche und ging die Treppe hinauf in mein Zimmer.

Ich liebte mein Zimmer. Für mich war es wie eine Oase des Friedens und der Ruhe, außer ich musste Hausaufgaben machen, dann schrie ich das ein oder andere Mal schon in ein Kissen. Trotzdem fühlte ich mich hier so wohl wie sonst nur im Wald.
   Als ich die Treppe herauf ging, knarzte eine bestimmte Stufe, die Dad schon seit Jahren reparieren wollte, und auch meine Zimmertür gab ein ähnlich quietschendes Geräusch von sich. Das nenne ich Zuhause. Die rechte Wand war dunkelrot gestrichen, die restlichen Wände sowie die Decke sind ganz hell grau, beinahe als weiß zu sehen. Der Boden ist aus altem Parkett, dass schon vor mir existierte und einige Gebrauchsspuren aufwies. An der Wand Richtung Flur stand mein Bett, die türkis gestreifte Bettdecke hob sich schrill ab. In der hinteren rechten Ecke war mein Schreibtisch, der immer mit allerlei Dingen vollgestellt war. Neben Schulbüchern und Blöcken türmten sich CDs und Bücher darauf. Die linke Wand war vollends von einem Schrank vereinnahmt und gegenüber der Tür ließ ein großes Fenster Licht in den Raum. Besonders stolz war ich auf die schwarze Silhouette eines Sonnenuntergangs, die die rote Wand zwischen meinem Bett und dem Schreibtisch auf Augenhöhe zierte. Ich habe einige Stunden gebraucht, um die Vorlage aus dem Internet vergrößert zu zeichnen, daraus eine Schablone auszuschneiden und das Motiv an meine Wand zu pinseln. Unter dem Sonnenuntergang stand noch ein Regal, das ebenso überfüllt war wie mein Schreibtisch, und die Raummitte zierte ein plüschiger dunkelroter Teppich. Für mehr Möbel war nun auch wirklich kein Platz vorhanden.
   Mit Schwung warf ich meine Tasche vor den Schrank, schloss die Tür und ließ mich auf mein Bett fallen. "Es gibt doch nichts schöneres als Zuhause", flüsterte ich in mein Reich hinein.

   Das einzige, was mich an einem Montagmorgen am Leben hält, ist der Unterricht. Es klingt verrückt, und die meisten Klassenkameraden stimmten mir sicherlich nicht zu, aber Montag ist mein Lieblingstag, abgesehen von der Tatsache des frühen Aufstehens nach dem Wochenende.
   In den ersten beiden Stunden hatten wir Musikunterricht. Unsere Lehrerin war zwar manchmal etwas anstrengend, aber es hätte schlimmer sein können. Wir waren nur immer froh, wenn sie die Theorie außen vor ließ und wir dafür proben durften. Das Klavier ist mein Instrument, auch wenn es nicht besonders spannend ist, dafür allerdings praktisch, denn ein großes E-Piano schmückte einen Teil unseres Wohnzimmers.
   Dean hatte stattdessen Kunstunterricht, deshalb trafen wir uns in der ersten Pause vor unseren Spinden, die nebeneinander lagen.
   "Guten Morgen! Du hast Musik also überlebt?", begrüßte er mich lächelnd.
   "Sonst stände ich nicht hier. Spürst du denn deine Finger noch, Picasso?" Ein Scherz von uns. Ich bin fast so unbegabt im Zeichnen wie er den Takt beim Flohwalzer zu halten, aber nur fast.
   Dean schloss seinen Spind auf und ließ seine Bücher mit einem lauten Knall auf den Stapel mit Schulsachen fallen. "Was haben wir gleich nochmal?"
   "Mathe", antwortete ich und lächelte ihn an.
   Er verzog angewidert das Gesicht. "Igitt, ich weiß schon, wieso ich Montage hasse."
   "Was hast du denn gegen Mathe?", fragte ich ihn ironisch, obwohl ich die Antwort längst wusste.
   "Mathe wurde nur erfunden, um Kinder zu quälen und ihnen den Spaß am Leben zu nehmen." Sein Blick hätte mich töten können.
   "Nur weil du es nicht kannst." Ich sah ihn trotzig an, stellte meine Sachen in den Spind und kramte meine Mathesachen sowie den Taschenrechner heraus.
   "Du bist seltsam." Wieso mochte denn niemand Mathematik? Ich verstand es einfach nicht.
   "Womit wollten wir jetzt heute anfangen?", sagte Dean, als wir uns langsam auf den Weg zum Matheraum machten.
   Ich überlegte einen Moment. "Ich denke, es waren bedingte Wahrscheinlichkeiten."
   "Und was soll das sein?" Ich wollte gerade antworten, da fiel er mir ins Wort. "Warte! Ich nehme die Frage zurück! Nur, bitte, verschone mich noch ein paar Minuten mit Mathe."
   "Wie du willst", entgegnete ich schulterzuckend.
   Im Matheraum saßen schon viele deprimierte Gesichter und unterhielten sich. Dean und ich nahmen unsere Plätze ein, ich saß neben der Fensterbank und Dean rechts neben mir.
   "Das 'M' in Mathe steht für Mord", redete er vor sich hin und ließ seine Mappe auf den Tisch fallen, bevor er sich setzte und tief seufzte.
   "Oder für Motivation", ärgerte ich ihn und bekam erneut einen tödlichen Blick spendiert.
   "Höchstens fehlende Motivation, wenn überhaupt."
   Die Klasse füllte sich und keine zehn Sekunden, nach dem die Klingel schrill den Beginn der Stunde einläutete, trat Mr Anderson ein. "Morgen, Klasse. Ihr seht mal wieder sehr ausgeruht aus", begrüßte er uns. Von der Klasse kam nur ein leises Stöhnen. "Gut, ich sehe, ihr seid alle bereit, deshalb fangen wir mal an. Ich habe da mal etwas vorbereitet." Er kramte wild in seiner Tasche herum.
   "Was kommt jetzt?", flüsterte Dean in meine Richtung, das allgemeine Gemurmel der Klasse wurde lauter.
   "Ich kann euch trotzdem hören", kommentierte der Lehrer grinsend. "Aber da es Montagmorgen ist, will ich Gnade walten lassen. Es dauert auch nur noch einen Moment."
   "Und?", verlangte Dean wieder meine Aufmerksamkeit.
   "Ich weiß es nicht, mal sehen", antwortete ich schulterzuckend.
   "Aha, da haben wir es", sagte Mr Anderson und holte einen beschriebenen und drei unbeschriebene Blätter aus seiner Tasche sowie drei Magneten. Er klappte die Tafel auf und hing die Blätter schnell daran, damit keiner sah, was dahinter stand, bevor er die Flügel ganz öffnete. "Bevor wir mit bedingten Wahrscheinlichkeiten beginnen, möchte ich mit euch noch ein Experiment machen. Wie ihr seht, haben wir hier drei Zettel. Hinter einem dieser Zettel ist ein Gewinn, hinter den anderen eine Niete. Kann mir jemand sagen wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, den Gewinn zu ergattern?"
   Ein paar Schüler meldeten sich, und Lindsey antwortete: "Ein drittel."
   "Korrekt. Das ist hoffentlich allen klar." Mr Anderson ließ seinen Blick über die Klasse gleiten und blieb einen Moment bei Michael hängen. Ich bin gegen Vorurteile, aber er war ein Footballer aus dem Bilderbuch, der zwar sportlich, aber nicht sehr intelligent war. Heute verriet Michaels Miene nichts, doch jeder wusste, dass er Mathe schon seit einiger Zeit nicht mehr verstand.
   "Gut, jetzt denkt an ein Spiel. Ihr habt die Chance, einen Zettel zu wählen. Danach decke ich auf, dass hinter einem der verbliebenen Zettel definitiv kein Gewinn liegt. Jetzt habt ihr noch zwei Optionen. Entweder, ihr belasst es bei dem Zettel, den ihr vorher schon gewählt habt, oder ihr wechselt zum anderen. Ich gebe euch zehn Minuten dafür euch zu streiten, bei welcher Variante ihr größere Gewinnchancen habt. Eine logische Erklärung reicht mir auch, ihr braucht nichts zu rechnen. Viel Spaß." Damit entließ uns Mr Anderson in die Arbeitsphase.
   Angestrengt überlegte ich und kratzte mich nachdenklich an der Schläfe.
  "Ich wusste, das wird böse enden", beschwerte sich Dean neben mir.
   Belustigt sah ich ihn an. "Würdest du wechseln?"
   "Den Unterricht? Gerne! Egal wohin, nur weg hier!"
   "Nein", entgegnete ich lachend. "Ob du bei deiner ersten Wahl bleibst oder ob du den anderen Zettel nimmst."
   "Ist das nicht uninteressant? Es ist doch alles Zufall." Genervt sah er mich an.
   "Aber wenn du bleibst, dann..."
   "Lass mich mit Mathe in Ruhe, ja? Mein Gehirn verkraftet das nicht!"
   "Armer, kleiner Dean!", neckte ich ihn weiter. Daraufhin riss er ein Blatt aus seinem Block aus, zerknüllte es und warf mich damit ab. "Aua!", entfuhr es mir.
   "Selber Schuld, Nerd. Hast du zumindest die Lösung des Rätsels?"
   "Ich bin mir nicht sicher. Die Wahrscheinlichkeit beim ersten Versuch falsch zu liegen, ist zwei drittel, beim zweiten Versuch ist sie geringer. Von daher könnte man wechseln."
   "Also laut meiner Rechnung bedeuten zwei Zettel eine Gewinnchance von fünfzig Prozent. So viel Mathe traue ich mir noch zu. Dann braucht man nicht wechseln."
   "Ja, aber als du entschieden hast, gab es keine zwei, sondern noch drei Türen. Die Gewinnchance ändert sich ja zu deinen Gunsten. Aber hey, ich habe dich dazu gebracht, Mathe zu machen!"
   "Ist gut, wie auch immer. Du wirst schon Recht haben, Mathefreak", lächelnd sah er mich an, und er lächelte so gut wie nie im Matheunterricht. “Und meine Beteiligung war eine absolute Ausnahme!”
   Die Diskussion ging knapp eine halbe Stunde in der ganzen Klasse weiter, manche begründeten mit Logik, andere mit komplizierten Rechnungen. Mr Anderson brach das Gespräch dann ab und erklärte, wie er das Problem sah. Tatsächlich erklärte er genau das, was Dean und ich besprochen haben, wenn auch genauer und ausführlicher.
   Mathematik war gar nicht so schlecht, doch mindestens die halbe Klasse brach beinahe zusammen, als Mr Anderson uns noch eine Aufgabe stellte, die der vorigen sehr ähnlich war. Nachdem die Stunde endete sahen viele Schüler so aus, als wären sie einen Marathon gelaufen. Mit leeren Blicken trabten sie den Flur entlang in die Pause, und nach drei weiteren Stunden wird der Schultag vorbei sein

NightmareWo Geschichten leben. Entdecke jetzt