Kapitel 6

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Hausaufgaben sind grässlich. Während man die Zeit nach der Schule zur Erholung nutzen könnte, um sich emotional auf den nächsten Tag vorzubereiten und das Gelernte sacken zu lassen, saß ich nun hier an meinem Schreibtisch, kurz vor dem Verzweifeln. Mrs Rumsey meinte es einmal mehr gut mit der Menge an Arbeitsmaterial, und so beschäftigte ich mich schon seit etwa eineinhalb Stunden ausschließlich mit diesem Fach. Später warteten noch Biologie, Physik und Mathe auf mich. Um ehrlich zu sein, sind diese Fächer definitiv das kleinere Übel.
Konzentriere dich, ermahnte ich mich selbst und schüttelte den Kopf. Ich umfasste den Stift fester und beendete den Satz. Danach ließ ich ihn seufzend fallen und drehte mich auf dem Stuhl um. Mitleidig betrachtete ich mein Zimmer. Es gab einfach zu viele Versuchungen, die hier herumlagen und mich zuckersüß anlachten. Die Sonne schien strahlend durch das Fenster und versprach einen letzten Hauch von Sommer, die Bäume leuchteten in prächtigen Farben. Mein Bett grinste mich an, wie es breiter nicht geht, und flüsterte leise, wie warm und bequem es sei. Der Laptop lag auf dem Regal und schien nur darauf zu warten, dass ich meinen Nachmittag im Internet verbrachte. Aber das, was am lautesten nach meiner Aufmerksamkeit schrie, war das Buch auf meinem Nachttisch. Ich hatte gerade erst Seite einhundert erreicht, und konnte es trotzdem kaum aus der Hand legen. Es war ein Thriller, der unvermittelt begann und in jedem Kapitel neue Überraschungen lauerten, eine grausamer als die andere. Mom hatte mir davon abraten wollen, aber ich setzte mich durch und versicherte ihr, dass ich von diesem Buch bestimmt nicht noch mehr Albträume haben würde.
Einen Moment dachte ich nach, dann stand ich auf, setzte mich auf mein Bett und schnappte mir das Buch. Vorsichtig strich ich über den dunkelgrünen Einband, der mit goldenen, verschnörkelten Linien versehen war. Ich öffnete es und wie von selbst legten meine Hände das Lesezeichen beiseite. Doch ich schüttelte den Kopf, platzierte das Lesezeichen ordentlich zwischen den Seiten, klappte das Buch zu und legte es zurück. Was jetzt nach mir rief war das schlechte Gewissen, das mir sagte, die Hausaufgaben wollten heute noch fertig werden. Genau in diesem Moment verzog sich mein Bücher liebender Schweinenhund mit eingeklemmter Rute in den hintersten Ecken meines Gehirns. Sehr nett von dir, liebster Schweinehund. Aber da ließ sich nichts mehr dran machen. Seufzend ging ich zurück, setzte mich an den Schreibtisch und beendete meine Horrorhausaufgabe. Davon bekam ich Albträume.

"Mrs Rumsey ist doch durchgedreht", beklagte sich Dean, bevor der Unterricht mit unserer Lieblingslehrerin begann. "Das Ding, was ich da fabriziert habe, hat mich zwei Stunden meiner Lebenszeit gekostet."
"Meinst du, bei mir sah das anders aus?" Verärgert dachte ich zurück an den gestrigen Nachmittag, den ich vergeuden musste, anstatt den vielleicht letzten schönen Nachmittag des Jahres draußen zu genießen. Sind es nicht die Lehrer, die sich beschweren, wir sollten rausgehen und uns bewegen? Ich war mir sicher genau zu wissen, wo der Haken an der Sache lag.
"Ich verstehe Lehrer manchmal einfach nicht. Morgen wollen sie, dass wir eine Facharbeit dazu schreiben. Am besten, sie wäre bis zum nächsten Tag fertig, und wehe, es sind weniger als fünfzig Seiten!", scherzte Dean und konnte nur mühsam ein Grinsen unterdrücken.
"Also wenn ich Mrs Rumsey verstehen würde", hob ich an, "dann weise mich bitte sofort in eine Psychiatrie ein, dann kann ich für nichts mehr garantieren." Jetzt lächelte Dean bis über beide Ohren, ein Lächeln, dass meine Laune immer besserte.
"Hast du heute Nachmittag Zeit? Mit den Hausaufgaben sind wir schließlich durch."
"Sag das nicht zu laut! Gleich haben wir Unterricht mit Mrs Rumsey. Wer weiß, was sie sich wieder hat einfallen lassen", gab ich zu bedenken.
"Nehmen wir mal an, sie würde uns nichts aufgeben, hättest du dann Zeit?"
Ich überlegte und beschloss, dass trotz einer hohen Regenwahrscheinlichkeit es wohl ein schöner Nachmittag werden könnte und dass es sich lohnte, bei der Eiseskälte heute nochmal rauszugehen. Gerade wollte ich etwas sagen, da drang ein lautes Donnergrollen vom Schuleingang herein, der sich nur wenige Meter vor uns befand und dessen Türen während eines Tages öfter offen als geschlossen waren. Der Donner war extrem laut und zog bis ins Mark, ich spürte meine Knochen vibrieren und mein Herz tat einen Satz, genau wie mein Körper. Mit einem Schlag war es stockdunkel draußen, wo vor wenigen Minuten, zwei oder drei wenn überhaupt, noch die Sonne fröhlich hereingeschienen hatte.
"Das ging schnell", bemerkte Dean. Auch die anderen Schüler waren auf das Gewitter aufmerksam geworden und es wurde merklich leiser im Flur.
Wieder grollte der Donner, noch tiefer als zuvor. Diesmal wurde er durch einen Blitz begleitet, der problemlos die alten Lampen im Flur überstrahlte. "Los, schnell rein!", hörte ich Schüler vom Eingang aus rufen, dazu schnelle Schritte. Sie waren klitschnass, eine Andere rief: "Macht die Tür zu!" Wir gingen am Eingang vorbei, und wenn ich es nicht besser gewusst hätte, wäre ich genau jetzt vom Weltuntergang überzeugt gewesen. Zu Blitz und Donner, deren Spiel keine Pause zu haben schienen, gesellte sich ein Regen, dessen Tropfen wieder einen Meter vom Boden hochsprangen. Der Wind ließ die Bäume sich beinahe hinlegen, Blätter rieselten hinab wie Konfetti und wurden in demselben Moment vom Wind erfasst und davongetragen. Ein Baum etwas weiter hinten verlor einen mittelgroßen Ast, der quer über dem Fußweg lag. Doch selbst das war durch die Dunkelheit schwer auszumachen. Ich blickte auf die Uhr über dem Eingang, die anzeigte, es war zwanzig nach zwölf, obwohl man meinen könnte, es wäre schon später Abend.
Und dann passierte es. Die meisten Schüler hielten sich vom Eingang fern, der mit großen Glastüren ausgestattet war, das Unwetter wurde uninteressant und sie wandten sich wieder anderen Dingen zu. Dean und ich waren mit den drei Tropfnassen die einzigen, die zusahen. Vor der Schule, hinter den Glastüren, befand sich ein weitläufiger Platz, bespickt mit Mustern aus Kopfsteinpflaster, in dessen Mitte eine alte, verschnörkelte Eiche stand. Seitdem ich in diese Schule gehe, steht er da, und selbst die ältesten Lehrer wissen nicht, seit wann dieser Baum existiert. Der Wind rüttelte an ihm und die Blätter fegten gegen die Türen. Dann ertönte ein Knacken, zwischen den Geräuschen des Flurs kaum herauszuhören.
Alles geschah so schnell, dass es auf mich wie in Zeitlupe erfolgte. Ich sah, wie der Ast sich löste, Faser für Faser. Der Wind rüttelte an einer dünnen Schicht, die den Ast noch an der Eiche hielt, und irgendwann gab der Baum nach. Der Ast war groß und sollte schwer genug sein, sicher auf dem Boden zu landen, aber der Wind trug ihn sanft wie eine Feder und schnell wie der Blitz Richtung Eingang. Wie erstarrt blieb ich stehen und sah zu, wie der Ast auf die Glastür und direkt in meine Richtung flog. Dumpf vernahm ich Deans Stimme und ein paar Schreie, dann zog mich etwas ruckartig beiseite aus der Schusslinie. Dean und ich landeten auf dem Boden und als ich zurückblickte, sah ich, wie der Ast durch die Glastür flog, den Eingangsbereich bis zum Anfang eines geradeaus verlaufenden Flurteils durchquerte und durch seine Größe glücklicherweise nicht weiterkam, sondern an den Wänden hängen blieb. Mehr Schreie waren zu hören und Dean hielt mich fest. Mein Blick irrte unkontrolliert hin und her, von der zerschmetterten Tür, über die Glasscherben am Boden, bis hin zum Ast, der durch seine Maserung eine bizarre Schönheit aufwies und mich doch fast erschlagen hätte.
"Da liegt einer!", zeriss ein Schrei meine Gedanken und mein Blick blieb an einem Jungen hängen. Es war einer der Tropfnassen, er lag jetzt auf dem Boden, seine Augen waren geschlossen und eins seiner Beine stand merkwürdig in eine Richting, in die es nicht stehen sollte. Das schlimmste war allerdings sein Arm. Von seinem Unterarm in urspünglicher Form war nichts mehr übrig. Er war offen vom Handgelenk bis zum Ellenbogen, Blut sickerte in dickflüssigen Strömen auf den Vinylboden des Flurs. Etwa in der Mitte blickten seine weißen Knochen heraus. Mir wurde übel, die anderen Tropfnassen standen geschockt ein paar Meter weiter und schlugen sich die Hände vor die offenen Münder. Sie hatten es geschafft, dem fliegenden Ast zu entkommen. Tränen rannen über ihre Wangen, einer der Jungen zitterte am ganzen Körper.
"Wir brauchen einen Arzt!", rief ein mir unbekannter Lehrer und rannte auf den Verletzten zu, fühlte nach seinem Puls und kontrollierte seine Atmung. Ein anderer Lehrer zückte währenddessen sein Handy und rief den Notruf. Im Augenwinkel sah ich Schüler, die sich laut schluchzend umarmten, andere standen wie angewurzelt da und beobachteten das Szenario emotionslos, und wieder anderen wich alle Farbe aus dem Gesicht, sie brachen zusammen und saßen zitternd an den Wänden.
"Ist alles in Ordnung?", fragte Dean, der das Zittern in seiner Stimme unterdrückte. Immer noch hielt er mich fest, als könnte der Ast mich noch erschlagen, sobald er mich losließ. Ich nickte, nicht dazu fähig einen klaren Gedanken zu fassen. Das alles hatte wahrscheinlich nur wenige Sekunden gedauert, aber es fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Wir saßen mitten im Eingangbereich, der zu den Fluren führte, und beobachteten, ohne etwas mitzubekommen. Nur der nächste Donner erreichte meine Sinne.
Wir sahen, wie der Lehrer verzweifelt neben dem Verletzten saß und Befehle aus dem Handy zu ihm dröhnten. Die Schülermassen wurden weniger, es klingelte zur nächsten Stunde, aber Dean und ich blieben wo wir waren. Der Krankenwagen traf ein und die Notärtzte agierten schnell und präzise, verbanden die Wunden notdürftig und hievten den Verletzten auf eine Trage, bevor sie ihn durch den Eingang schoben, wo vor einer viertel Stunde noch eine Glastür war. Immer noch spürte ich nichts, aber das Gefühl würde gleich zurückkehren, das wusste ich.
"Charlotte? Dean?", hörte ich jemanden hinter mir sagen. Wir drehten uns um, Emily, ein Mitschülerin, stand hinter uns und blickte besorgt. "Ich habe gehört, was passiert ist. Mrs Rumsey lässt den Unterricht ausfallen und über die Sprechanlage wurde durchgesagt, dass auch alle anderen Stunden für heute ausfallen. Geht es euch gut?"
"Alles gut, danke", antwortete Dean, aber es war offensichtlich, dass auch er unter Schock stand.
"Dann bis morgen", verabschiedete sie sich unsicher und machte kehrt, die Lehrer sperrten gerade den Haupteingang ab.
Zwei Krankenwagen standen noch auf dem Vorhof, die Sanitäter begutachteten alle Opfer ihrer Nerven, die zusammengebrochen waren beim Anblick des Verletzten. Einer kam zu mir.
"Wie fühlen Sie sich?", fragte er und beleuchtete meine Augen mit einer kleinen Taschenlampe, um die Reflexe meiner Pupillen zu überprüfen.
"A-alles in O-ordnung", brachte ich mühsam hervor. Es war, als hätte ich das Sprechen verlernt.
"Sind Sie sich da sicher?" Er beschäftigte sich mit meinem Puls. "Ihr Puls sagt da etwas anderes."
"Sie wäre fast vom Ast getroffen worden", half Dean aus.
Zustimmend nickte der Sanitäter. "Ich würde Sie gerne mit ins Krankenhaus nehmen. Ihr Herz schlägt noch zu schnell. Es ist nur zur Beobachtung, heute Abend können Sie schon wieder nach Hause."
Ich sah ihn an, dann Dean, der mir beim Aufstehen half. "K-kommst du mit?", fragte ich.
"Natürlich", erwiderte Dean und lächelte aufmunternd. "Geht das?", versicherte er sich an den Sanitäter gewandt.
"Eigentlich dürfen nur Angehörige mitfahren, aber ich mache in Anbetracht der Situation eine Ausnahme."
"Danke."
Der Sanitäter führte uns zu einem Krankenwagen, der mit Sicherheitsabstand neben der Eiche stand. Dean hielt meinen Arm fest, sodass ich mich darauf abstützen konnte, und machte keinerlei Anstalten mich loszulassen. Es war ein mulmiges Gefühl, durch das Loch im Türrahmen zu treten. Mein Verstand wollte zuerst nichts begreifen, doch dann fiel es mir auf. Sonnenstrahlen kitzelten auf meiner Haut, der Wind war nur noch ein laues Lüftchen und die Wolkendecke brach immer weiter auf. Die Verwüstung, die der spontane Weltuntergang hinterlassen hatte, war unübersehbar, aber bis auf die Stöckchen und Blätter, die überall herumlagen, wirkte es so, als hätte es die letzte halbe Stunde nie gegeben. Verwirrt schüttelte ich den Kopf, was dieser mit Schwindel quittierte.
"Vorsicht", warnte Dean mich, als er mir in den Krankenwagen half. Er setzte sich sofort neben mich und hielt meine Hand. Unter anderen Umständen hätte ich sie weggezogen, wäre rot angelaufen und hätte lauter schwachsinniges Zeug geredet, aber soweit dachte ich nicht. Es war einfach beruhigend zu spüren, dass er da war, als ein Freund.
Der Sanitäter verschwand kurz. "Danke, Dean."
"Wofür?"
"Ich wäre vom Ast erschlagen worden. Es... ich... ich wäre fast...", stotterte ich. Eine Träne rann über meine Wange.
"Hey, es ist alles gut. Der Ast hat dich nicht getroffen, denk daran." Aufmunternd sah er mich an und lächelte, was ich unwillkürlich erwidern musste. Er packte meine Hand noch fester und legte einen Arm um mich. Erleichtert ließ ich meinen Kopf auf seine Schulter sinken, als der Krankenwagen losfuhr.

"Was ist passiert?", platzte es lautstark aus Mom heraus, als sie mich im Krankenbett sah. "Geht es dir gut, Schätzchen? Alles in Ordnung?"
"Ja, Mom. Es ist alles super", beruhigte ich sie.
"Aber was ist denn geschehen? Sag schon", forderte sie mich leicht hysterisch auf. So besorgt kannte ich sie nur, wenn ich sie nachts mehrmals schreiend wegen Albträumen aus dem Schlaf riss.
"Ich weiß nicht", antwortete ich. Meine Gedanken klarten sich langsam auf, auch wenn die Ärzte mir ein Beruhigungsmittel gaben. Dean hatte sich neben mich auf das Bett gesetzt und tröstete mich, als meine Sinne zurückkehrten und ich realisierte, was passiert war. Gerade war er dabei, Schokoriegel aus dem Snackautomaten zu besorgen, weshalb ich hier mit Mom alleine war. "Auf einmal tobte ein Sturm, riss einen Ast von der alten Eiche und schleuderte ihn durch die Eingangstür. Wenn Dean mich nicht zur Seite gezogen hätte, dann... dann hätte der Ast mich getroffen."
"Meine Kleine! Du hast dir doch nicht weh getan, oder?" Liebevoll mütterlich nahm sie mein Gesicht zwischen ihre Hände und strich über mein Haar. In ihren Augenwinkeln sammelten sich Tränen.
"Nein, hat er nicht", versicherte ich ihr. Der Schock hatte mittlerweile so weit nachgelassen, dass ich noch schauderte, wenn ich an diesen Moment dachte, ich aber schon wusste, dass es bald besser werden würde. Nur den Wald würde ich bei stärkeren Winden meiden.
"Dann ist gut." Trotzdem musterte sie mich gründlich, um sicherzustellen, dass es mir gut ging. Meine Mom war schon immer übervorsichtig.
"Ich habe nur die hier gefunden, aber ich hoffe..." Dean blickte auf und sah meine Mom. "Hallo, Mrs Gilligan."
"Hallo, Dean", erwiderte Mom und hörte auf, mein Haar zu streicheln, griff stattdessen nach meinen Händen. "Was du getan hast, das..."
"Mom!", unterbrach ich sie. Meine Sinne kehrten zurück, und damit auch mein Peinlichkeitsradar. Vor allem Dean gegenüber.
"Das war nur eine Reaktion, nicht der Rede wert", beendete er das Gesprächsthema schnell. Wahrscheinlich hatte er bemerkt, dass mir diese Situation unangenehm war. Damit reichte er mir einen Schokoriegel und setzte sich auf einen Stuhl, der neben dem Bett stand.
"Danke." Froh über ein bisschen Zucker riss ich die Verpackung auf und nahm einen großen Bissen. Geschäftig kaute ich und Mom musste für einen Moment mit Fragen und Danksagungen innehalten, da Dean das gleiche tat wie ich.
Stillschweigend saßen wir da, jeden Bissen dreiunddreißig Mal gekaut, bis Mom wieder das Wort ergriff. "Als die Ärzte mich anriefen, war ich total schockiert. Umherfliegende Äste bei Sturm sind zwar keine Seltenheit, aber zu erleben, dass jemand bekanntes beinahe von einem erschlagen wird, ist etwas ganz anderes."
"Ja, Mom, ich weiß. Ich kann es auch noch nicht glauben, aber hör bitte auf, darüber zu reden. Ich komme da schon mit klar." Zuckersüß lächelnd sah ich sie an. Diesen Blick benutzte ich nur in Notfällen, damit Mom sich weniger Sorgen machte, kramte ich ihn ab und zu heraus. Das war etwas fies, gerade angesichts der Tatsache, dass der Ast jedes Mal wenn ich die Augen schloss, wieder auf mich zuflog und ich unfähig war, mich zu bewegen, aber es war notwendig. Sonst ließ sie mich vielleicht nie mehr rausgehen, bis ich fünfunddreißig war.
"Bist du dir sicher?"
"Ich werde es überleben." Ihr Blick war jedoch etwas misstrauisch. Mütter können anstrengend sein.
"Zumindest ist morgen Wochenende", lenkte Dean das Gespräch in eine andere, erfreulichere Richtung. "Hast du..."
"Ich denke es ist besser, wenn sie sich ausruht", mischte Mom sich ein und bedachte ihn mit einem Blick, der keine Widerrede duldete.
"Mom..."
"Nein, du ruhst dich erstmal aus." Die Strenge wich weitestgehend aus ihrer Mimik und wurde durch Fürsorge ersetzt.
"Aber ich bin doch kein Kind mehr!"
"Nichts 'aber', du bist trotzdem noch meine Tochter. Der Arzt meinte, er will später noch einmal nach dir sehen und dann kannst du nach Hause. Dean, sollen wir dich mitnehmen und bei dir wieder absetzen?"
"Ja, das wäre gut", antwortete er.
Seufzend sah ich Mom an, musste aber auch lächeln. Ich war stärker als sie dachte, da war ich mir sicher. Es brauchte schon ein bisschen mehr, um mich um den Verstand zu bringen.

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