10 | Simon

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11. März, 10:57 Uhr
Simon atmet tief durch, als er die große Holztüre der Realschule öffnet.
Noch ist es nicht zu spät, wenn er jetzt geht, wird nichts geschehen.
Aber sie alle hatten ihre Chance.

Auf zittrigen Beinen geht er die Steintreppe zur Aula hinauf und stockt, als er den hellen Raum mit den bunten Tischen erblickt.

Wie oft hat er früher dort hinten in der Ecke gestanden und auf das Ende der Pause gehofft.
Wie oft hatten sie ihn dort hinten in die Jungentoiletten gezogen, um ihn zu verprügeln oder seinen Kopf in die Schüssel zu stecken - meistens, nachdem einer von ihnen pinkeln war.
Zu oft.

Simon geht zu einem der blauen Tische und legt seine grüne Sporttasche darauf ab.
Seine Hand zittert stark, als er den Reißverschluss öffnet und die schwarze Wollmütze herauszieht.
Er zieht sie sich über sein Haar und betrachtet sich in der Spiegelung des Fensters.

Nein, denkt er, ich werde mich nicht verstecken.
Seufzend zieht er die Mütze wieder ab und stopft sie zurück in die Tasche, dann zieht er das Diebesgut aus Opas Küchenschrank hervor.

Zum ersten Mal betrachtet Simon die schwarze Waffe.
Sein Großvater hat sie sich gekauft, nachdem bei ihm letztes Jahr eingebrochen wurde.
Die Pistole ist schwarz und matt.

Fast andächtig streicht Simon über das kühle Metall, bevor er sich die passende Munition in die Hosentasche schiebt.

Anschließend geht er zu den Toiletten und stößt die bunt bemalte Türe auf.
Er betritt den kleinen Vorraum mit den Waschbecken und wäscht sich die Hände.
Als er in den Spiegel blickt, wird ihm selber schlecht - was ist er nur für ein Mensch. Kein Wunder, dass alle ihn hassen.

Er spült seinen Mund mit kaltem Wasser aus.
Simons Haut rötet sich an den Stellen, die er mit den dünnen, rauen Papiertüchern abtrocknet.

Seine Sporttasche lässt er in einer der Kabinen, bevor er zurück in die große Aula geht.

Simon sieht aus dem Fenster, der Schulhof draußen ist leer.
Dann geht er die Treppen nach oben, in den ersten Stock - hier sind die Klassenzimmer der Siebt- und Achtklässler. Die Fünft- und Sechstklässler, die im Erdgeschoss unterrichtet werden, wird er nicht besuchen - die nicht.

Er zieht die Waffe aus seinem Ärmel, dann schießt er demonstrativ aus dem offenen Fenster im Gang.
„Eckstein, Eckstein alles muss versteckt sein - ich komme."

„Willste um nen Hausmeisterjob betteln, Stinkmon?"
Simon blickt in das rundliche Gesicht des dicken Jungen, dessen Mund die abwertenden Worte verlassen haben.
Simon kennt ihn. Er ist der Bruder eines ehemaligen Klassenkameraden.

Noch einmal lässt er die Waffe aus seinem Ärmel rutschen.
Ein seliges Lächeln stiehlt sich auf Simons Gesicht, als die Augen des Jungen sich erschrocken weiten.

Und dann schießt er.

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