10. Kapitel

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Er röchelte kurz und hustete, als sie gerade den letzten Kabelbinder fest um sein linkes Handgelenk schnürte. Und sie lächelte zufrieden aber kalt, als sie sah, wie das Plastik in sein Fleisch schnitt und ein winziger Tropfen Blut auf den Küchenfußboden tropfte.

"Mach mich los!", krächzte Samantha's Stiefvater mit rauer Stimme, rüttelte am Stuhl, auf dem er saß, und versuchte mit aller Kraft, seine Hand- und Fußgelenke davon loszubekommen.
"Nein", lachte Samantha und blieb, nach einer weiteren Runde, die sie um ihn drehte, vor ihm stehen, legte den Kopf schief und setzte sich im Schneidersitz vor seine Füße.
Sie drehte ihr Taschenmesser zwischen den Fingern und sah ihm direkt in die Augen.
"Wie ist das so?", fragte sie ihn und schnalzte mit der Zunge.
"Wie ist das so - komplett hilflos?"
Seine Antwort bestand aus einem abwertenden, wutentbrannten Blick, bevor er brüllte:
"Mach mich los du Hure!"
"Nein", sagte Samantha gleichgültig, stand seelenruhig auf und machte einen Schritt auf ihn zu.
"Ich werd dich nicht losmachen. Jetzt noch nicht. Erst will ich dich was fragen."
Ihr Stiefvater sagte nichts, er spuckte ihr vor die Füße und grinste sie verächtlich an.
"Okay. Wie du willst, Fettsack", erwiderte sie, setzte ihr Taschenmesser an seinen Oberarm und drückte die Klinge auf seine Haut. Langsam zog sie sie darüber.
Er zuckte und versuchte wieder sich zu befreien. Er schrie sie an, aufzuhören, aber sie dachte nicht einmal daran.
Erst in seiner Armbeuge machte sie Halt und sah ihn erwartungsvoll an.
"Warum hast du das gemacht?"
Sie sah ihm in die Augen, die sie hasserfüllt anfunkelten.
"Warum hast du Mama zu dir geholt? Warum hast du uns zu dir geholt? Warum hast du uns nicht einfach verrecken lassen?"
"Wo ist denn da der Spaß?", fragte er kühl zurück und betrachtete das Blut, das über seinen Arm lief.
"So geb ich eurem erbärmlichen Leben ein bisschen Sinn, nicht?"
Sie ballte sie Hände zu Fäusten und am liebsten hätte sie auf ihn eingestochen, doch sie schaffte es sich zu beherrschen und brach ihm stattdessen die Nase und dem Knacken nach wahrscheinlich auch einen ihrer eigenen Finger.
Wieder brüllte er sie an, beleidigte sie, befahl ihr die blutunterlaufenen Kabelbinder zu lösen, aber sie sah ihn nur mit seltsam leeren Augen an.
"Warum war ich nie genug?"
Tränen füllten ihre Augen.
"Du bist ein Niemand, Dummerchen", lachte er. "Ein unbedeutender Niemand, der nichts kann; deshalb."
Eine Träne ran über ihre Wange und als sie sie wegwischte schmierte sie sich etwas Blut in's Gesicht.
"Du wirst das bereuen", sagte ihr Stiefvater, bevor sie ihm quer über die linke Wange tief ins Fleisch schnitt.
"Nein. Jetzt bereust du. Alles."
Sie hatte einen riesigen Kloß im Hals, aber sie wollte nicht weinen. Nicht seinetwegen. Nicht schon wieder.
Er wollte gerade wieder etwas sagen, da setzte sie an der selben Stelle noch einmal an und erreichte - unschlüssig ob absichtlich oder nicht - seine Mundhöhle.
Das Blut floss unaufhörlich und er brüllte wie am Spieß, doch Samantha betrachte nur abwechselnd ihr Messer und ihren Stiefvater.
"Ich hasse dich", war alles, was sie klar und deutlich verstehen konnte.
"Ich weiß", sie schluckte, "das tun sie alle. Ich auch. Aber weißt du was? Niemand wird mich jemals so sehr hassen, wie ich dich."
Sie machte wenige Schritte zurück, tastete nach einer Schublade an der Küchenanrichte und nahm eine Plastiktüte heraus.
Anschließend ging sie zurück zu ihm.
"Sayonara, Arschloch", sagte sie - jetzt doch schluchzend - und tat einen letzten tiefen Einschnitt senkrecht neben seinem Kehlkopf. Die Plastiktüte befestigte sie mit einem Kabelbinder und auch diesen zog sie viel fester als notwendig.

Er schrie immer noch, als sie sich umgezogen und das nötigste zusammengepackt hatte. Trotzdem war seine Erschöpfung mittlerweile deutlich hörbar und Samantha's Tränen versiegten. Sie war zufrieden und zuversichtlich. Sie hatte die Hoffnung, die Hölle auf Erden hinter sich zu haben.

- Ende -

part two "bloody scars" is already up & finished!

dry tearsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt