Kapitel 1 - Kinderschuhe

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Weißt du mein Junge, du bist noch ganz am Anfang eines Weges, dessen Verlauf du dir nicht im entferntesten vorstellen kannst. Ich kann dir nur eines sagen. Du stehst wie jeder andere jedem Tag vor einem Berg voll Möglichkeiten. Du stehst auf einer Straße mit unendlich vielen Abzweigungen. Glaube mir, nicht jede dieser Abzweigungen bringt dich an dein kurz oder lang gesetztes Ziel. Du biegst mal völlig falsch ab und wirst dich nicht mehr erinnern können, wo die Stelle nun schlussendlich war, an der du falsch abgebogen bist. Dir bleibt nichts anderes übrig als deinen Weg nach und nach hinter dich zu bringen. Alles in der Hoffnung irgendwo die richtige Spur zu finden. Du wirst auch einmal im Stau stehen. Du wirst denken, es gibt absolut kein vorankommen. Aber irgendwann löst sich der Knoten. Auch wenn es sich anfühlt, als würdest du in erstickendem Treibsand stecken oder durch zu tiefst erschöpfenden Tiefschnee schreiten. Es gibt nur eine einzige Richtung und diese heißt vorwärts. Vorwärts, bis du an deiner letzten und einzigen Sackgasse angekommen bist. Theologen behaupten ja, dass es auch diese Sackgasse nicht gibt. Bestimmt sagen, kann es allerdings keiner. Dein Vater konnte, wie du selbst nicht steuern, wo sein Weg beginnen wird. Er konnte immer nur entscheiden, wo er ihn weiter gehen möchte. Natürlich wurde er am Anfang an die Hand genommen und er hatte wenig Möglichkeiten dies zu Steuern. Eines kann ich dir jedoch sagen. Die Menschen, die deinen Vater an die Hand genommen haben, meinten es nie böse mit ihm. Sie wussten es einfach nicht besser.

Dein Vater wurde damals in eine für ihn absolut heile Welt geboren. Glaube mir, wenn ich dir sage, dass es noch mit Abstand schlimmere Startpositionen gäbe. Er war der Jüngste von 3 Geschwistern und wie es sich nun Mal für das jüngste Kind in einer Familie gehört, wurde er immer von allen beschützt und behütet. Natürlich auch nur soweit es in der Macht der anderen lag ihre schützende Hand vor ihn zu halten. Wenn du das älteste Kind in einer Familie bist, bist du zwar für jeden erstmal ein absolutes Highlight. Eine völlige Neuheit, die noch keiner gesehen hat. Alles an dir ist besonders, einzigartig und gibt ein völlig neues bisher unbekanntes Gefühl. Nicht umsonst ist das Erstgeborene schon immer der größte Stolz der Vorfahren und das wertvollste Gut in vielen Kulturen. Auch historisch ist das Erstgeborene eines der wertvollsten Dinge, die ein Mensch auch nur haben kann. Als jüngster, bist du zwar nicht unbedingt die Sensation, die es wie der erste über Monate hinweg auf die Titelseiten aller Euphorieblätter schafft. Du bist aber der, bei dem sich alle denken: "Hier mach ich es jetzt erst recht richtig. Ich habe ja jetzt gelernt." So hatte also dein Vater nicht nur eine Mutter, die ihn an die Hand nahm und in das Leben führte, sondern auch einen eigenen Vater, eine Schwester und einen Bruder. Alle 4 behüteten sich so gut sie konnten. Einsamkeit kannte dein Vater nicht.

Wenn man so zurückblickt, hatte es dein Vater wirklich nicht schlecht erwischt. Seine Eltern, deine Großeltern, haben kurz vor seiner Geburt ein neues Eigenheim gebaut. Ein absolut traumhaftes Haus, in einem kleinen 1000 Einwohner Dorf, mit freundlichen Nachbarn und die Welt rings um diesen Palast war ein einziger Spielplatz, ein Park voller Abenteuer. Deine Großeltern hatten sogar Pferde, zu Hochzeiten waren es sogar 3 Stück. Sie hatten auch einen Hund. Einen richtigen deutschen Schäferhund. Sein Name war Armor. Armor war eine Sensation. Auch wenn dein Vater zu jung war, um ihn richtig kennengelernt zu haben. Er war sein Leben lang von diesem Tier fasziniert. Du musst wissen, Armor war in der Familie deines Vaters schon in seiner zweiten Familie. In der ersten Familie wurde Armor von Kindern gequält und misshandelt. Durch dieses Trauma wurde er leider immer sehr aggressiv, wenn ein Kind sich ihm genähert hat. Also im Grunde war Armor nicht gerade der perfekte Familienhund. Dein Vater hat das aber nie wirklich interessiert. Er ist schon im Kindergartenalter immer zu ihm hin, hat ihm einen Arm hingehalten damit der Hund in ihn beißen konnte und hat ihn dann mit der anderen Hand gestreichelt. Armor hat nie wirklich fest zugebissen. Es war mehr ein Schutzreflex von ihm erstmal nach einem Kind zu schnappen, wenn eines in die Nähe kam. Es gab sogar einmal die Situation, als ein Nachbarkind und damals bester Freund von deinem Vater von Zuhause abhauen wollte und zum Schutz sich Armor mitgenommen hat. Armor ist diesem kleinen Jungen kein Stück von der Seite gewichen. So sind Sie dann durch den Ort spaziert. Irgendwann ist Leuten aufgefallen, dass da ein kleiner Junge mit maximal 5 Jahren alleine mit einem Hund durch den Ort spaziert und wollten den kleinen dann Nachhause bringen. Armor hat aber keinen fremden an den Jungen ran gelassen. Bekannte deiner Großeltern haben, Armor dann erkannt und diese angerufen. Es ging alles gut aus. Der Junge kam Nachhause, wie Armor auch. Leider hat der Hund nicht mehr viel länger gelebt. Er musste später eingeschläfert werden. Deine Großmutter hat über Tage hinweg nur geweint. Dein Vater konnte das alles natürlich gar nicht begreifen, er war mit seinen 5 Jahren natürlich viel zu Jung. Als die Trauer überwunden war, haben sich deine Großeltern dann auch wieder einen neuen Hund zugelegt. Sein Name war "Rex". Wie hätte es auch anders sein sollen. Dein Vater war ein Kind der 90er. Die damals bekanntesten Hunde waren Lassie und Rex. Du siehst, dein Vater ist im Prinzip in eine Welt hinein geboren worden, die einem Bilderbuch entsprechen könnte. Er hatte Geschwister, Pferde, Hunde und die Krönung von allem, die Oma und der Opa, also deine Urgroßeltern wohnten sogar noch im gleichen Haus. Ein wirklich geglücktes Fundament, auf dem man eine große Zukunft aufbauen konnte.

So war die Welt deines Vaters auf jeden Fall, wenn sich der Vorhang für das Publikum öffnete. Hinter den Kulissen geht es, wie du selbst sicher auch schon erfahren durftest, leider etwas rauer zu. Dein Onkel und großer Bruder deines Vaters kam irgendwie schon in jungen Jahren nicht so ganz auf sein Dasein klar. So ganz hat es dein Vater nie verstanden und dein Onkel war leider auch nie wirklich in der Lage es deinem Vater richtig zu erklären. Man könnte vermuten, es war die Eifersucht, dass er durch seine Geschwister nicht mehr im Mittelpunkt stand. Vieles wurde aber erst nach und nach in den folgenden 20 Jahren deinem Vater erklärt und somit auch bewusst. An manchen Abenden, als dein Vater und seine Schwester schon im Bett lagen, hörten sie von unten Schreie. Schreie, schmerzerfüllt und wimmernd. Schreie, die nach Hilfe und Gnade bettelten. Schreie, die ungehört blieben. Dein Vater wollte der Sache nie nachgehen. Er hatte viel zu viel Angst, was er hätte entdecken können. Manchmal kam seine Schwester dann zu ihm ins Bett oder er kletterte in das ihre. Die beiden waren schon immer ein Team und gaben gegenseitig auf sich Acht, wenn es ihnen möglich war. Seine ältere Schwester war aber schon immer etwas mutiger als dein Vater. Es kam der Tag, an dem sie ihre Neugier nicht bremsen konnte. Sie ging die Treppen hinunter und sah die Ursache für all diese Schreie. Schnell flitzte sie wieder zu deinem Vater und erzählte ihm hektisch, was sich im Erdgeschoss an diesem Abenden abspielt. Es war zu schockierend, das es dein Vater hätte glauben können. Es war Zeit, dass er sich die Sache ansieht. So setze er sich auf die Stufen der Treppe und rutschte mit seiner Schwester neben sich Stufe für Stufe immer weiter hinunter, bis sie sehen konnten, was die Ursache der Schreie war. Dein Vater sah, wie seine Eltern mit einer Gerte, die normal für die Pferde gedacht war, auf den Rücken seines Bruders einschlugen. Es war das erste Mal, dass dein Vater Gewalt dieser Art gesehen hat. So saß er mit seiner Schwester da. Starr vor Angst, Mitleid und Hilflosigkeit. Irgendwann riss ihn seine Schwester aus seiner Trance und sie huschten vor Angst wieder nach oben in ihr Bett. Es war das letzte Mal, der letzte Abend an den sich dein Vater erinnern kann, dass er diese Schreie gehört hat. Ob es später noch öfter vorkam weiß er nicht oder er kann, will sich nicht erinnern. Dieses widerliche Gefühl von Hilflosigkeit, Angst und Scham hat er aber nie vergessen. Dafür gab es auch noch genug andere Situationen, die ihn an diesen Abend erinnerten.

Viele Jahre später erfuhr dein Vater, dass sein Bruder wohl seine Zimmerwände immer mit seiner Scheiße beschmiert hatte. Deine Großeltern erklärten sich, wenn sie sich überhaupt erklärten mit Verzweiflung und Hilflosigkeit. Zum Teil spielten sie diese Situation auch herunter und erklärten ihm, dass es nicht so war. Es ist aber so, dass er wie auch seine Schwester, sich ziemlich ähnlich an diese Geschichte erinnern. Es wäre ein komischer Zufall, wenn es sich beide nur eingebildet hätten. Dein Großvater war immer ein Held für deinen Vater. Herzlich und selbstlos ein wenig einfach aber er meint es stets gut. Es ist deinem Vater nie gelungen sich diesen Abend zu erklären und mit seinem Vater darüber zu reden, fehlte ihm bis dato noch immer der Mut. Er musste allerdings recht früh lernen, dass deine Großmutter ein recht hohes Gewaltpotential hatte.

Das LebenWhere stories live. Discover now