Kapitel 5 - Desozialisierung

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Wie du dir vermutlich vorstellen kannst, hat ein 9-jähriger Junge alles andere im Kopf als auch nur eine Minute seiner so wertvollen Freizeit für die Schule zu verschwenden. Wozu auch? Es hatte absolut keinen Sinn etwas zu machen, wenn es ohne jegliche Konsequenz bleibt. Es war niemand Zuhause, der einem die so sehr nötigen Diktate diktiert, um die nächste Fünf in Deutsch zu vermeiden. Es war niemand da, der einen dazu zwingt Hausaufgaben zu machen, bevor man spielen kann. Niemand war anwesend, der einem Verbote ausspricht, wenn man häusliche Pflichten wie den Müll rausbringen, Geschirr abwaschen oder Aufgaben wie den Stall der Pferde auszumisten, nicht gewissenhaft erledigt. Vermutlich würde das fast kein Kind dieser Welt ohne Aufsicht erledigen. Viel mehr war man damit beschäftigt den Hund anzuschreien, wenn er winselte, weil er dringend Raus musste. Es war eine Tagesaufgabe die Katze zu verscheuchen und rauszuschmeißen, weil sie nicht gestreichelt werden wollte, wenn man sie streicheln wollte. Die Katze wurde wegen ihrer arroganten treulosen Art so sehr gehasst, dass dein Vater sie es einfach spüren lassen musste. Kurz gesagt, dein Vater war ein richtiges Arschlochkind. Er trieb es mit dem armen Tier so weit, dass es irgendwann nicht mehr Nachhause kam. Dein Vater war nicht nur ein Arschloch, sondern auch völlig verwahrlost. Es war niemand da, der ihm sagte, das man mal wieder frische Unterwäsche anziehen sollte. Duschen, Zähneputzen, jegliche Körperhygiene war ein Fremdwort. Für den Gang zur Toilette war der Weg zumindest fürs kleine Geschäft viel zu weit. Dafür musste kurzer Hand eine Ecke im Zimmer herhalten. Dies bereute er aber nach kürzester Zeit, weil der Geruch zu sehr Überhand nahm. Vermutlich war es reines Glück, dass dein Vater nicht auf viele dumme Ideen kam.

Für die Schule hatte dieser Zustand natürlich auch nicht gerade positive Auswirkungen. Weil dein Vater nie seine Hausaufgaben machte, musste er von da an jeden Tag nachsitzen. Die Lehrer meinten, es sei eine Bestrafung für ein Kind, wenn es ein oder zwei Stunden länger in der Schule sitzen musste, wenn alle anderen schon Nachhause konnten, um dort eventuell zu spielen. Deinem Vater war das aber absolut gleichgültig. Im Gegenteil, es spielte ihm sogar komplett in die Karten. Zwischen 12 und 13 Uhr war dein Großvater Zuhause, der ihm hätte sagen können was er hätte tun sollen. Ganz gleich, ob diese Anweisung auch wieder nicht befolgt wurde. Das einzig Schlimme am Nachsitzen, waren für deinen Vater die anderen Stammgäste, Idioten und Arschlöcher, die beim Nachsitzen waren. Im Regelfall waren es Schläger oder sonstige Kinder mit respektlosem Verhalten den Lehrern gegenüber. Für deinen Vater abscheuliche Menschen, zu denen er auf keinen Fall gehören wollte. Dein Vater war immer ein Kind, das von den Lehrern trotz der Unerreichbarkeit stets gemocht wurde. Dein Vater war belehrungsresistent und faul für 10 aber selten ein Arschloch anderen Menschen gegenüber. Außer ein einziges Mal. Ein Junge aus der gleichen Straße, aus der Straße wo nur Arschlöcher wohnen und alle miteinander verwandt sind, hatte regelmäßig den gleichen Nachhauseweg. Schon in der Grundschule war er mit rechtem Gedankengut verseucht. An einem Wintertag ist dein Vater mit diesem Idioten zusammen Heim gegangen, als sie die einzigen ausländischen Kinder im Ort sahen. Schnell nahm der Idiot so viel harten Schnee, wie er konnte und schmiss nach den vielleicht 6-jährigen Kindern. Es ging nicht lange und die kleinen begannen zu heulen und rannten zu ihren Eltern. Gejagt von deinem Vater und diesem Kerl, permanent nach Matsch von der Straße haschend und nach den Kindern werfend. Das ging so lange, bis der Vater der ausländischen Kinder, mit einem zutiefst betrübten Blick, fast schon mit Tränen in den Augen vor den beiden stand und nur eine Frage stellte: "Warum?" Selten hat sich dein Vater so schäbig gefühlt. Es war das letzte Mal, dass dein Vater mit diesem Kerl den Schulweg teilte.

Ein anderer der Stammgäste war ein übergroßer schlaksiger Junge, mit blaugrünen Augen und blondem Haar, der aufgrund von ADHS wirklich Schwierigkeiten hatte sich in der Schule zu konzentrieren und meist nicht wusste, was er mit sich anfangen soll. Ein unschuldiges Opfer seiner Erkrankung und mit einer fast schon so beschissenen Herkunft wie dein Vater. Zu diesem Zeitpunkt wusste es dein Vater aber noch nicht. Für ihn war es einfach nur ein zu hoch gewachsener Junge, der völlig überdreht war, aber im Grunde ein echt netter Typ war. Dein Vater wusste auch nicht, dass dieser Junge für Ihn eines Tages einer seiner besten Freunde und langjähriger Begleiter in seinem Leben sein wird. Einer der Menschen, die für deinen Vater eines Tages Familie sein wird. Doch in dieser Zeit teilten sie sich noch nichts außer den gemeinsamen Nachhauseweg. Wirklich zusammen fanden sie erst später. Zum Glück deines Vaters und vermutlich auch zu dem des Jungen musste der Junge die 4. Klasse wiederholen und ging von da an in die gleiche Klasse wie dein Vater. Um ein wenig Verwirrung für den Rest der Geschichte zu vermeiden, geben wir ihm den Namen Peter. Peter hatte einen sehr ähnlichen Hintergrund wie dein Vater. Aufgewachsen ohne intakte Familie, mit Hunden, Pferden und Katzen. Seine Eltern waren aber schon länger getrennt, seine Mutter lebte mit ihm bei seinem Stiefvater in einem alten Bauernhaus direkt neben dem Friedhof des Dorfes. Ebenso ein Riese wie Peter, nur etwa doppelt so breit gebaut und wie sich später rausstellen sollte, schwerer Alkoholiker. Für deinen Vater war dieser Mann ein absolutes Scheusal. Furchteinflößend, permanent bereit zur Eskalation, ohne Hemmungen vor Gewalt gegenüber Kindern oder Frauen. Während bei deinem Vater Zuhause das gewaltige Nichts und die Einsamkeit wartete, lauerte bei Peter die Gewalt und andere Dramen, die sich in der Zukunft noch abspielen werden.

Bei deiner Großmutter schien es nach der Scheidung auch langsam in "normale" Bahnen überzugehen. Sie hatte eine neue Arbeit, eine neue Wohnung und nach einiger Zeit auch einen neuen Freund. Auf einmal war da jemand, der den Platz deines Großvaters an ihrer Seite einnahm. Noch immer verbrachten dein Vater und deine Tante die Wochenenden bei deiner Großmutter. Doch jetzt nicht mehr nur bei deiner Großmutter, sondern bei ihr und ihrem Freund. Ein komischer Kerl, der es beim Rangeln unglaublich lustig fand Kindern den Daumen zu verdrehen, bis ihnen die Tränen in die Augen kamen. Es war einfach völlig anders, fremd und kalt, unausstehlich für deinen Vater und deine Tante. Dein Onkel entfernte sich immer mehr von seinen zwei Geschwistern. Sie sahen sich kaum noch. Waren sie da, sperrte er sich in sein Zimmer ein oder war gar nicht da. Deine Tante durfte gar nicht in das Zimmer deines Onkels. Dein Vater hatte jedoch hin und wieder die Ehre, deinem Onkel in sein Zimmer folgen zu dürfen. Dein Onkel hatte inzwischen das Rauchen angefangen. Auf der Schule hat sich auch nicht viel geändert. Er war wie früher noch immer ein Rebell und schwarzes Schaf, immer dabei die Lehrer zu provozieren. Immerhin war auf der Schule niemand mehr, der ihn verprügelt. Eines änderte sich jedoch nie. Die Scheinheiligkeit des Familienglücks war nicht auszuhalten. Dein Vater und seine Schwester, gingen vermutlich nur noch aus Gewohnheit und Anstand  zu ihrer Mutter, nicht weil der Drang, der Wunsch sie zu sehen so enorm war. Es gehörte sich eben, dass man hin und wieder seine Mutter besucht. Man würde sich ja sonst vergessen. Auch wenn Vergessen vermutlich das beste gewesen wäre, was deinem Vater und deiner Tante hätte passieren können. Im Grunde gab es von Freitag bis Samstag nur einen einzigen Wunsch, die Sehnsucht danach wieder allein zu sein.

Einige Zeit später kam auch dein Großvater mit einer neuen Freundin. Dein Vater konnte diese alte, dürre Frau mit ostdeutschem Akzent und faltigem Gesicht nicht ausstehen. Mal davon abgesehen, dass er dem Dialekt absolut nichts Positives abgewinnen konnte, hasste er es, wie sehr sie alles hasste. Sie mochte das Haus, die Pferde und das Dorfleben nicht. Sie wirkte in allem, was sie sagte oder machte immer abwertend. Kurz gesagt sie verachtete alles, was das bekannte Leben deines Vaters ausmachte. Das aller schlimmste war aber, sie hatte eine Tochter. Sie hatte den gleichen Namen wie deine Tante und das fanden natürlich alle ultra komisch. Alle bis auf deinen Vater. Sie war etwa 1 Jahr älter als dein Vater und etwa 1 Jahr Jünger als deine Tante. Auf ein mal ist da ein Mädchen und von deinem Vater wurde verlangt, sie leiden zu können. Doch das konnte er einfach nicht. Zum einen ist da jemand völlig fremdes, der sich zwischen ihn und seine Schwester drängte und zum anderen merkte er, wie die so wert geschätzte Einsamkeit verloren geht. Alles was dein Vater wollte, war alleine sein. Er wollte endlich das verlieren, was verloren war.  

Das LebenWhere stories live. Discover now