Kapitel 6 - Entwurzelt

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Eines kann man mit Bestimmtheit sagen. Was dein Vater brauchte, war eine Hand, die ihn an die Eigene nimmt und irgendwie wieder auf eine Bahn führt, die nicht in den völligen Untergang führt. Er war ein Kind voller Zweifel, Zweifel an sich selbst und ohne Glauben, ohne Hoffnung. Im Grunde war er ein lauter Schrei nach Hilfe. Ein stummer Schrei nach Hilfe. Hilfe die aber leider so gut wie nie pro aktiv auf jemanden zukommt. Wenn du dir eines hinter die Ohren schreiben kannst, dann ist es: Niemand bietet dir Hilfe an, wenn du nicht um Hilfe bittest oder dich zumindest mit offenen Augen danach umschaust. Die Augen deines Vaters waren aber geschlossen.

Deine Großmutter war der Meinung für ihr eigenes Wohl in eine andere Stadt ziehen zu müssen.
Sie hatte ein erstklassiges Jobangebot an einem Forschungsinstitut an dem sie, als Assistentin für Tierversuche zuständig war. Ihre Hauptaufgabe war es wohl sich um die Tiere zu kümmern. Mehr hat dein Vater nie über den Job erfahren. Deine Großmutter hat ihn viel zu sehr gehasst, daher hat sie nie sonderlich viel davon erzählt. Das Geld war aber dafür umso verlockender. So verlockend, dass sie mit deinem Onkel in eine 100 km entfernte Großstadt zog. Für deinen Vater, der damals in die 5. Klasse ging, war sie also unglaublich weit über dem Horizont der bisher bekannten Welt.

Die Nachmieterin der Wohnung deiner Oma war die Geliebte deines Opas. Eine Wohnung mit 2 Schlafzimmern, einem Wohn- und Esszimmer mit einem relativ großen Garten. Dein Großvater hatte die geniale Idee mit deinem Vater und seiner Schwester dort mit einzuziehen und das große Haus zu vermieten. So waren es also 5 Menschen, die sich kaum kannten und kaum ausstehen konnten, in einer Wohnung mit zwei Schlafzimmern. Von da an musste dein Vater sein Zimmer wieder mit seiner Schwester teilen. Es war also vorbei mit der so sehr geliebten Einsamkeit. Ein allein sein war von da an nicht mehr. Der Gedanke deines Großvaters ist absolut nachvollziehbar. Man Vermietet das Haus, teilt sich die Miete mit der Partnerin und kommt so finanziell besser über die Runden. Ganz zu schweigen, dass man so ein weiteres Kontrollorgan für die Kinder impliziert. Für deinen Vater war es aber die Hölle. Das Leben alleine war bisher absolut erträglich und sogar absolut gewollt. Doch von nun an lebte er mit dem Erzfeind unter einem Dach. Es reichte so weit, dass er nirgendwo mehr sein wollte. Nicht nur, dass er keine Familie mehr hatte, er hatte auch kein Zuhause mehr. Er verweigerte das zu essen, was die Alte deines Großvaters zubereitete und verlor jegliche Privatsphäre. Dein Vater war kurz davor in seine Pubertät zu kommen und musste sich das Zimmer mit seiner pubertären Schwester teilen. Orientierungslosigkeit wäre wohl der passende Begriff für diese Situation gewesen. Der einzige Trost und somit das einzige Glück was deinen Vater von der völligen Verzweiflung abhielt, war deine Tante. Wäre sie nicht der Stern am Himmel gewesen, an dem er sich orientieren konnte, wäre er vermutlich an diesem Leben zerbrochen. Wäre seine Schwester nicht sein Wellenbrecher, hinter dem er sich verstecken konnte, wäre er längst verloren gewesen.

Die neue Schule, eine katholische Privatschule, die im Nachhinein betrachtet genau das war, was deinem Vater das Leben rettete, war am Anfang natürlich eine nahtlose Fortsetzung der Grundschule. Dein Vater, intelligent aber faul für zehn, war ein Ass in Mathe und in dem neuen Fach Englisch, war er auch ganz in Ordnung. Einzig die schriftliche deutsche Sprache war wieder ein großes Problem für den jungen Heranwachsenden. Für die Lehrerin deines Vaters war dein Vater pädagogisch gesehen vermutlich ein absoluter Alptraum. Unnahbar und unerreichbar, kein Krawallmacher aber absolut unbelehrbar. Doch ohne es zu wissen wurde sie zu seinem Mutterersatz. Teilweise bis zu Acht stunden am Tag begeisterte und frustrierte er sie. Dein Vater wollte die edle Frau nicht enttäuschen, doch wie das Leben deines Vaters, passte seine Art einfach nicht ins für Schüler vorgesehene System. Ein Kind völlig talentiert aber nicht in der Lage sein Talent auch nur im entferntesten auszuschöpfen. Sie konnte nicht wissen, woher dieser Junge kommt und welche Geschichte er hat. Alles was sie wusste war, dass er keine Hausaufgaben machte. Doch Hausaufgaben oder auch Heimarbeit, war für deinen Vater pure Folter, denn dein Vater war emotional obdachlos. Ein Landstreicher, den er viele Jahre mimte. Dein Vater tat alles um nicht in diese zwei Schlafzimmer Wohnung zurück zu müssen. Wenn er nicht nachsitzen war, saß er bei trockenem Wetter draußen in einem Waldstück auf einem Baumstamm oder auf einer Bank. Wochen und Monate verstrichen, neue Menschen betraten das Leben deines Vaters und alle waren einfach nur enttäuschend.

Alle vierzehn Tage galt es am Wochenende die Mutter in der weit entfernten Stadt zu besuchen. Sie wohnte in einer 2 Zimmer Wohnung mit deinem Onkel. Also auch dort war nur 1 Schlafzimmer. Im Grunde war es ein 48 Stunden Gefängnis. Das Wochenende wurde beherrscht von einem einzigen Gefühl. Dem Gefühl, endlich wieder flüchten zu können. Flüchten von einer Person, die man im Prinzip fast nicht mehr kannte. Eine Person, die man nur noch besucht, um ihr ein bewegtes Bild zu geben, das einigermaßen widerspiegeln soll, welch Mensch man geworden ist. Doch keiner wusste zu dieser Zeit, welch Mensch man in der Zwischenzeit geworden war. Deine Tante war vermutlich die einzige, die annähernd an das Gefühl deines Vaters heranreichte. Über deinen Onkel kann ich leider nichts erzählen. Dieser war bereits verloren. Dein Vater wusste nicht, was er macht und welch Mensch er war. Deine Vorfahren waren ein gemeinsamer Haufen von einzelnen Pixeln in einem Familienportrait angehäuft. Nah beieinander aber jedes einzeln für sich abgegrenzt und farbgebend für ein Bild, das maximal einem obskurem oder höchstens abstraktem Bild einer Familie darstellen sollte.

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⏰ Last updated: Mar 04, 2019 ⏰

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