Kapitel 4 - Spaltung

21 0 0
                                    

Nach fast einem Jahr hatte dein Vater endlich in der neuen Welt Fuß gefasst. Er hatte einen neuen besten Freund und verbrachte so gut wie jeden Nachmittag mit ihm beim Spielen in der Natur. Wie mit seinem großen Bruder, baute er auch mit seinem neuen besten Freund Lager im Wald und es entwickelte sich eine ganze Gruppe von fast 10 Kindern, Mädchen wie Jungs die zusammen eine kleine Siedlung bauten. Dein Vater wieder der Anführer, der sagte was am Tag auf dem Plan stand. Er war so sehr verankert in seinem kleinen sozialen Gefüge, dass er kaum mitbekam, dass seine Schwester inzwischen auf eine andere Schule ging und ein völlig anderes Leben als er führte. Deine Tante zählte lange für alle in der Familie als schlaustes je aus der Familie gekommene Kind. Deinem Vater kam dies zumindest immer so vor. Sie hatte es schließlich fast auf die Realschule geschafft. Keiner aus der näheren Familie hat je Abitur gemacht oder geschweige denn studiert. Leider war sie in Mathe, anders als dein Vater der aber dafür in Deutsch seine Vierer sammelte, ein absoluter Versager, dass sie es auf der Realschule nie weit geschafft hätte. So ging sie wie jeder andere, der deinem Vater bekannten Teil der Familie vor ihr, auf die Hauptschule. Dennoch waren sich alle sicher, sie wird ihren Weg gehen. Ein Stück weit beneidete dein Vater sie. Sie ging nämlich jetzt auf die gleiche Schule wie dein Onkel. Es hätte für deinen Vater nichts Cooleres gegeben, als mit seiner Schwester und seinem Bruder auf eine Schule zu gehen. Zu dritt in einem Bus den gleichen Schulweg zu teilen, auf dem Pausenhof immer wieder sehen zu können, wie seine Geschwister ihr soziales Leben führen und den anderen zu zeigen: Schau der große da drüben ist mein großer Bruder.
Immer wenn deine Tante Nachhause kam und von der großen weiten Welt erzählte, hörte dein Vater wie gebannt zu. Sie erzählte von einem Burger Restaurant, der die besten Burger weit und breit macht. Noch viel besser als bei Mc Donalds. Wie sie und ihre neuen Freundinnen ihre Pausen vor der Mittag Schule auf dem Marktplatz, im Stadtpark oder im Skaterpark verbrachten. Dein Vater konnte es kaum erwarten, endlich die Grundschule hinter sich zu bringen und auf eine Schule für die Großen zu gehen.

Eines Tages kam deine Großmutter zu deinem Vater und meinte, er hätte jetzt Kommunion Unterricht. Er hatte keine Ahnung was das sein soll und hatte wirklich absolut keine Lust darauf irgendwelches Kirchenzeug zu lernen. Aber die Mama hat es gesagt, also muss es getan werden. So ging dein Vater mit seinem anfänglichen Schwarm und Mädchen aus seiner Straße ein mal in der Woche zu diesem komischen Unterricht. Der Junge samt Zwillingsschwester, die neu in seiner Klasse waren, waren auch dabei. Eigentlich zwei recht nette Leute. Etwas zu anständig für den Geschmack deines Vaters aber im Prinzip ganz in Ordnung. Die Mutter, der beiden arbeitete auf dem Rathaus und leitete diesen Unterricht. Der Familienname war "Gut". Genauso waren sie auch. Sie waren einfach gut. So nett, anständig und gut, dass es dein Vater schon fast wieder widerlich fand. Sie waren so makellos. Vermutlich war es aber nur der Neid. Der Unterricht war immerhin in der Stadt, in der deine Tante zur Schule ging. Es war die erste Chance für deinen Vater ein wenig die weite Welt außerhalb seines 600 Einwohner Reichs zu sehen. Dein Vater wurde allerdings zuhause nie wirklich kirchlich erzogen. So fühlte er sich zwischen all den anderen Kindern eher wie das schwarze Schaf, wenn sie im Unterricht über Gott sprachen.

Im Sommer 1999, in dem Sommer 1999, war es dann wieder Zeit für deinen Vater das Irdische besser kennenzulernen. Der Unterricht über Gott und die Rituale in der Kirche war Gott sei Dank fast überstanden. "Gott sei Dank" ist vielleicht die falsche Redewendung für diesen Satz aber schlussendlich, war es bald geschafft.

An einem ganz normalen Sommertag der weder zu warm, noch zu kalt aber immerhin trocken war, kam deine Tante zu deinem Vater: "Ich glaube Mama und Papa lassen sich scheiden. Die streiten sich nur noch und haben kaum noch miteinander zu tun." Dein Vater hatte keine Ahnung, was seine Schwester da für Zeug redet. Er wertete es sehr schnell als dummes Gerede ab und widmete sich wieder seinem eigenen Tun. Deine Tante, mit ihrem empathisch viel ausgeprägteren Sinn für andere, musste natürlich Recht behalten. Kurze Zeit später wurden dein Vater mit seinen Geschwistern an den Esstisch gebeten. Es war eine Stimmung, als wäre jemand gestorben würde dein Vater später vermutlich sagen. An diesem Tag, war das Gefühl aber einfach nur Konfus. Er dachte, jemand hätte etwas angestellt, seine Schwester saß schon da mit den Tränen in den Augen. So ganz genau kann sich dein Vater nicht mehr erinnern, wer zuerst das Wort ergriff. An die Aussage erinnerte er sich aber wohl: "Wir möchten euch sagen, dass wir beide uns entschieden haben uns zu trennen und uns scheiden lassen. Das heißt, die Mama wird hier ausziehen und dein Bruder, wir haben vorher schon mit ihm darüber gesprochen, wird mit ihr mit gehen." Es war deinem Vater unmöglich zu begreifen, was das heißen soll. Darum war es ihm auch unmöglich Fragen zu stellen. Seine Schwester hatte wohl auch keine. "Wir möchten euch die Entscheidung überlassen, wo ihr hin wollt. Ihr könnt euch aussuchen, ob ihr lieber zu eurer Mama ziehen wollt oder bei Papa bleiben.", überrumpelten Sie deinen Vater. Ich meine, was soll dein Vater als 8-jähriges Kind da schon erwidern? "Ich muss da nochmal eine Nacht darüber schlafen.", wäre vermutlich eine Antwort gewesen, die ein älterer Mensch entgegengebracht hätte. Die Entscheidung war aber längst gefallen und wenn es auch nicht ganz die Entscheidung deines Vaters war, war sie von vornherein klar. "Deine Mama, wird mit deinem Bruder an einen anderen Ort ziehen.", war dann nebst der schnellen Entscheidung deiner Tante, bei deinem Großvater zu bleiben, ausschlaggebend dafür das dein Vater sich für deinen Opa, seinen Helden entschieden hat. Dein Vater konnte nicht schon wieder umziehen. Er konnte nicht schon wieder der Neue sein. Ganz ungewiss, wo er denn der Neue sein soll. Ohne große Schwester in der Rückhand. So waren die Verhältnisse geklärt. "Der Papa behält das Haus, die Pferde, den Hund und die Katze. Alle bleiben hier, die Mama nimmt nichts mit." Dein Vater hatte absolut keine Ahnung, was da passiert. Er hatte keine Chance zu begreifen, inwiefern das alles Auswirkung auf sein Leben haben wird. Auch wenn er als Erwachsener Mensch, viele der Entscheidungen nachvollziehen konnte, damals blieb ihm nichts anderes übrig, als der Urteilskraft seiner Schwester zu trauen. So spaltete sich also die Familie deines Vaters.

Erst in den folgenden Wochen kristallisierte sich heraus, was es für Folgen für deinen Vater mit sich brachte. Das auffälligste war als Erstes, das leere Haus wenn dein Vater von der Schule Nachhause kam. Es war einfach niemand da. Die Schwester auf einer Schule in einer anderen Stadt, wie der Bruder auch. Deine Großmutter weg und dein Großvater war arbeiten. An den Wochenenden ging es dann zu deiner Großmutter. Sie wohnte von da an in einer kleinen 50 Quadratmeter zwei Zimmer Wohnung mit einer Couch, einem Schrank und einem Fernseher. Einen bezahlten Fernsehanschluss gab es dort aber nicht. Vermutlich konnte sich das deine Großmutter nicht leisten. So saß dein Vater das ganze Wochenende vor einem verschneiten Bildschirm, auf dem Schemenhaft die öffentlich rechtlichen Sender zu sehen waren. Es war die pure Folter für deinen Vater und seine Schwester ihre Mutter besuchen zu müssen. Dein Onkel war tagsüber fast nie da. Um die Zeit zu vertreiben, spielten sie Brettspiele, bis man endlich schlafen konnte. Doch im Grunde war es trotz allem eine Zeit der Stille und der Einsamkeit. Auch wenn die eigentlich nächsten Menschen direkt um ihn waren, war es jederzeit zu spüren, dass keiner so recht etwas mit sich anzufangen wusste.

Es war Zeit für die Kommunion. Doch bevor der "ehrwürdige" Tag kam, sprachen deine Großeltern nochmal zu deinem Vater und deiner Tante: "Eure Familie weiß noch nichts von unserer Trennung. Wir möchten das noch etwas für uns behalten. Ich hoffe, ihr könnt darüber auch erst mal Schweigen bewahren." So war also der Weiße Sonntag, für deinen Vater ein Tag der absoluten Orientierungslosigkeit. Man soll glücklich sein und alle freuen sich für einen, weil man irgendeinen Meilenstein in seinem Leben erreicht hat. Diesen Tag aber konnte er doch nicht so richtig Teilen. Alle freuen sich, dein Vater im Mittelpunkt aber alles war nicht echt. Die Scheinheiligkeit war an diesem Tag kaum zu übertreffen. Es wurden Familienbilder gemacht, Bilder von einer Familie, die nicht mehr existierte. Dein Vater fühlte sich wie ein Fremdkörper in seiner eigenen Welt. Einsam und allein. Das einzig gute waren die Geschenke. Geschenke, bei denen der häufigste Satz war: "Das ist aber auch gleichzeitig dein Geburtstagsgeschenk." Der Geburtstag, der etwa einen Monat darauf folgen sollte. Ein Geburtstag ohne Familie. Ein Geburtstag unter Menschen aber trotzdem allein.

Die Einsamkeit war etwas, an das sich dein Vater aber gewöhnte. Er lernte sie sogar zu mögen, sie zu bevorzugen, denn nichts war so real, wirklich und ehrlich, wie die Einsamkeit. Von seinen Freunden zog er sich zurück. Zum Teil aus Scham, weil er nun zum Teil etwas komisch war, weil er selbst nicht wusste, wo er gerade steht. Er wusste nur eines, er konnte machen, was er wollte, denn er war allein.

Das LebenWhere stories live. Discover now