Das erste Licht eines neuen Tages kroch über das endlose Land Thalen. Zuerst erreichte es die Millionenstadt Ira an der südlichen Küste, ober zumindest ihre Dächer, da der Großteil der Stadt aus winzigen Gassen bestand, die nie auch nur einen Funken Sonnenlicht gesehen hatten.
Von dort aus breitete sich das Licht sich nach Norden aus. Es fiel über die Felder und Hügel der Provinzen, bis es schließlich an den Rand eines riesigen Waldes gelangte, hinter dem sich die gewaltigen Züge des Marmorgebirges erhoben. In ihrem Schatten befand sich eine Stadt, die einst Athora geheißen hatte. Jetzt bestand sie fast ausschließlich aus Ruinen. Eine Festung, die nicht zum Rest der Stadt zu passen schien, stand in der Mitte. Derzeit wurde sie von Lord Orion Sandall und seiner Familie bewohnt, die über die umliegende Gegend herrschten. In wenigen nicht zerstörten Häusern Athoras lebten seine Sklaven, die zum größten Teil ehemalige Bürger der Stadt waren, und Soldaten, die, sobald das Licht durch die Fenster ihrer Zimmer fiel, aus dem Bett sprangen und sich für das Morgenapell bereitmachten.
Auch in anderen Teilen des Waldes blieb der Morgen nicht unbemerkt. Versteckt zwischen den Hügeln, die den Fuß des Marmorgebirges säumten, lag ein kleines Dorf namens Athora. Es entsprach keinesfalls der geläufigen Vorstellung vom idyllischen Landleben. Die meisten Häuser bestanden aus Holz und sahen aus, als wären sie in aller Eile errichtet worden, weil ihre Bewohner einen sicheren Platz für die nacht brauchten. Die selbe Beschreibung traf auf den mit spitzen Pflöcken bestückten Zaun zu, der das gesamte Dorf umschloss und zur Befestigung diente. Er hatte ein massives Tor, das mit dicken Eisenketten verschlossen war.
Als die ersten Sonnenstrahlen auf besagtes Dorf trafen, krähte irgendwo zwischen den Häusern ein einsamer Hahn. Dann passierte zunächst nichts.
Kurze Zeit später wurde die Tür einer Hütte am Rand des Zauns mit Schwung aufgestoßen. Eine junge Frau trat heraus. Sie war groß und schlank und trug das einfache Kleid einer Bäuerin mit einem Ledergürtel, an dem ein Messer hing. Über ihr dunkelrotes Haar hatte sie ein Kopftuch gebunden. Der Name dieser Frau war Siofré. Sie war die Hohepriesterin der Athoraner.
Siofré sah sich um. Es schien, als wäre die vergangene Nacht recht friedlich gewesen. Das Tor wies ein paar offensichtliche Schäden auf, die von den gleichen Eindringlingen verursacht worden waren, denen ihr letzter Standpunkt zum Opfer gefallen war. Aus diesem Grund hatten sie es dieses Mal stabiler gebaut. Siofré nahm sich vor, später jemandem davon zu berichten, doch im Moment hatte sie eine andere Aufgabe. Es war eine sehr wichtige und ehrenvolle Aufgabe, die ihr bei der Verteilung der gesellschaftlichen Pflichten zugeteilt worden war, als die Athoraner ihr erstes neues Dorf bezogen hatten.
Sie ging zu einem kleinen Schuppen, der an ihr Haus angebaut war. Davor standen vier etwa halb volle Eimer mit Getreide. Nach einer schnellen Einschätzung der Füllmengen hängte sie sich den Leersten über den Arm und begann, die Hühner zu füttern, die überall im Dorf herumliefen. Für Siofré war diese Aufgabe tatsächlich wie geschaffen, denn so musste sie nur arbeiten, wenn die meisten Anderen noch schliefen und lief nicht in Gefahr, übermäßig viel mit ihnen reden zu müssen. Außerdem war die Morgendämmerung ihre bevorzugte Tageszeit, denn Siofré stand auf, wenn manch anderer ins Bett ging.
Irgendwann wurde ihr langweilig, also begann sie einzelne Getreidekörner gegen vorbeilaufende Hühner zu schnipsen. Auch das war ein Vorteil, den ihre Lebensweise mit sich brachte: Wenn niemand einen beobachtete, hatte man den Freiraum, zu tun was immer man wollte. Natürlich war sie nicht völlig unbeobachtet. Lord Sandall hatte seine Augen überall, und auch an diesem Morgen saß eins dieser Augen mit einem dunkelgrünen Cape getarnt und mit Proviant und einer Armbrust bewaffnet in einem nahen Baum. Erst in der nächsten Nacht würde es seinen Posten verlassen, um seinem Herrn alle Neuigkeiten über die Athoraner zu berichten.
Als sich die anderen Türen im Dorf langsam öffneten und Menschen heraustraten, um mit ihrer täglichen Arbeit zu beginnen, stellte Siofré gerade den geleerten Eimer zurück. Die Hühner des Dorfes pickten jetzt glücklich auf dem staubigen Boden herum.
Ein vorbeigehender Mann nickte ihr zur Begrüßung zu. Er hieß Hellmac Ferrand, war so breit wie hoch und hatte die Aufgabe, die Verteidigung Athoras zu organisieren, weil er in seiner Jugend in einem Krieg gekämpft hatte.
"Sie haben wieder das Tor angegriffen", sagte Siofré zu ihm. Er ließ ein keuchendes Lachen hören, das auf Bewegungsmangel und übermäßigen Bierkonsum zurückzuführen war. "Idioten", sagte er. "Zu meiner Zeit wären nicht einmal die dämlichsten Soldaten auf die Idee gekommen, eine befestigte Stadt an ihrer stärksten Stelle anzugreifen. Siofré seufzte, zumindest teilweise auch deshalb, weil er das jeden Morgen sagte, außer nach Nächten, in denen die Angreifer das Dorf hatten erobern können. "Zum Glück sind sie dümmer als wir. Ansonsten wäre unser Problem viel ernster." Ferrand brummte eine Zustimmung und verschwand, um das Tor zu begutachten, an dem sich schon zwei andere Männer mit Hammern, Nägeln und Holzlatten eingefunden hatten.
Siofré wurde von einer Welle des Patriotismus überwältigt. Obwohl das Volk der Athoraner vom Aussterben bedroht war, wurde sich immer sofort um alles gekümmert. Das sollten ihnen Lord Sandalls dreckige Schergen mal nachmachen.
Mit diesem Gefühl sah sie zum Himmel. Dem Stand der Sonne zufolge musste es etwa sieben Uhr sein. Es wurde also Zeit für ihre andere Aufgabe. Siofré ging in ihre Hütte, um sich umzuziehen. Man konnte immerhin nicht in Arbeitskleidung vor die Götter treten.
PS: Das é wird wie "a" ausgesprochen
Außerdem wäre ich euch sehr dankbar für konstruktive Kritik😊
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Die Legende von Thalen - Auracle
FantasySeit Jahren lebt das Volk der Athoraner unter der grausamen Herrschaft von Lord Orion Sandall. Die Wenigen, die noch in Freiheit leben, leisten erbitterten Widerstand, doch nun stehen sie kurz vor der Niederlage. Nur eine Prophezeihung der Hoheprist...