...Dracheneier? ->1<-

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22. November

Im hintersten Zugabteil, dem leersten, roch es stark nach Zigarettenrauch. Es war Ende November und eiskalt. Wenn es wärmer gewesen wäre, hätte ich die Fenster geöffnet, um den unangenehmen Geruch zu beseitigen. Doch ich hatte nicht vor, diese Kälte in das Zugabteil zu lassen. Die Fenster waren stark von den kalten Temperaturen draußen beschlagen, sodass die Aussicht auf die Landschaft nur trüb zu sehen war. Vier mit rotem Leder bezogene Bänke inklusive Tische waren im Abteil verteilt. Ich schloss die Abteiltür hinter mir und sah mich nach einem ruhigen Platz um.

Ich war nicht alleine. Eine junge Frau, mit auffallend lockigen, pechschwarzen Haaren und blasser Haut saß am hintersten Tisch und starrte aus dem Fenster. Sie trug einen dunkelblauen Ledermantel, dessen gleichfarbigen Handschuhe vor ihr auf dem Tisch lagen. Die Frau hatte große, dunkle Augen und zarte Augenbrauen. Sie besaß spitze, tiefrote Lippen, über die sie sich gedankenversunken mit den Fingern strich. Ihre wirren Haare hatte sie sich mit sichtlich wenig Mühe in einen lockeren Haarknäuel hochgesteckt, wobei die Hälfte ihrer Mähne lose auf ihren Mantel und in ihr Gesicht fielen, sodass sie ihr blasses Gesicht umrahmten.

Sie bemerkte meine Anwesenheit, als ich mich gerade an einen Tisch setzten wollte, und winkte mir zu. Ich gab ihr ein hastiges Lächeln und setzte mich ihr gegenüber. Sie lehnte sich vor und stützte ihren Kopf auf ihre Hände und beobachtete mich. Eine unangenehme Stille folgte.

„Wo steigen Sie aus?", fragte sie auf einmal. Ihre quirlige Stimme ließ mich zusammenzucken. Sie bemerkte dies und grinste.

„London."

„Schade, dann hätten wir noch etwas mehr Zeit zum Plaudern..."

Die junge Frau lehnte sich zurück und spielte mit einer ihrer Haarsträhnen. Sie griff zur Karaffe vor ihr und bot mir Wein an. Schweigend stimmte ich zu und nahm einen Schluck. Die Dame starrte aus dem Fenster und zeichnete Figuren mit ihren Fingerspitzen auf das beschlagene Fenster. Dann wandte sie sich wieder zu mir.

„Außerdem, mein Name ist Eva Clarke. Und Sie?"

Doch als ich antworten wollte, unterbrach sie mich schon mit ihrer schrillen Stimme:

„Warten Sie, lassen Sie mich raten. Sie heißen Paul oder Tom... Ja, Paul klingt gut. Sie sind sicher ein Arzt."

Miss Clarke machte eine Pause und durchbohrte mich mit ihren Augen.

„Sie sind verheiratet mit einer Amerikanerin und haben fünf Kinder, die alle daheim sind und traurig sind, weil ihr Papa nicht da ist. Na, liege ich richtig?", kicherte sie verschmitzt.

Irritiert druckste ich herum:

„Gestatten, Ben Stevens, kein Arzt und arbeite in einer kleinen Bank in London. Aber die meiste Zeit verbringe ich in einer kleinen Halle, die ich vor Jahren gekauft habe. Dort baue ich Sachen, Miss... zum Beispiel Alltagsdinge, um das Leben von anderen zu vereinfachen oder zu verschönern. Wie etwa eine Uhr, die zur gewünschten Zeit Lieder singt oder kleine mechanische Kinderspielzeuge, die man aufziehen kann. Das Größte, an dem ich gerade arbeite, ist ein Ballon, der hoffentlich einmal später nur durch Dampf fliegen wird. Ach ja, Miss Clarke, verheiratet bin ich leider nicht und habe auch keine Kinder."

Eva verzog ihren Mund und antwortete:

„Tja, da habe ich mich getäuscht. Sie wären aber sicher ein guter Arzt gewesen. Nun, ich bin zur Zeit arbeitslos, weil ich das letzte Jahr in Norwegen verbracht habe, um dort Drachen zu studieren."

Ich verschluckte mich beinahe am Wein.

„Drachen? In Norwegen? Das sind doch nur Fabelwesen, oder?"

Sie lachte hämisch und kramte in ihrer Tasche. Eva zog einen grünen Samtbeutel hervor. Vorsichtig griff sie hinein und brachte ein ballongroßes, beiges Ei hervor.

Entsetzt rief ich aus:

„Ist das ein Ei?"

„Aber natürlich, Ben. Ich habe es von norwegischen Bergleuten geschenkt bekommen, als ich wochenlang im Gebirge umherwanderte. Diese Kälte... Tja, das ist eine andere Geschichte. Fassen Sie es doch mal an!", lächelte sie und ihre Augen glänzten.

Ich griff neugierig hin. Es war warm. Für einen Bruchteil einer Sekunde dachte ich, dass unter der harten Schale wirklich ein Drache schlummerte. Doch diesen lächerlichen Gedanken verwarf ich gleich wieder.

„Es soll leben? Unmöglich!", lachte ich unsicher und nahm einen Schluck Wein. Ich wollte es nicht wahrhaben. Diese Frau war bestimmt einfach nur verrückt, wenn auch sie eine sehr interessante und abwechslungsreiche Gesprächspartnerin war – im Gegensatz zu all den Leuten, mit denen ich täglich redete.

„Und WIE es lebt! Ich könnte meinen, dass ich es wachsen spüre", konterte Eva grinsend und verstaute das Ei wieder in ihrer Tasche. Sie beäugte mich mit ihren aufgeweckten Augen.

Ich nickte und tat, als ob ich ihr glaubte. In Gedanken war ich mir sicher, dass diese Eva nur einen Dachschaden hatte und einen Stein mit einem Ei verwechselte.

Miss Clarke stellte mich plötzlich zur Rede:

„Was meinen Sie? Wie soll ich es nennen, wenn es geschlüpft ist?"

Sie starrte mich dabei an, als ob sie dadurch klüger werden würde. Ihr Blick schweifte zu dem beschlagenen Fenster. Ihre schwarze Lockenmähne bedeckte dabei einen Teil ihres Gesichtes. Ich wunderte mich, wie schwer es wohl sein würde, eine solche Menge an Haaren ordentlich aufzustecken.

Plötzlich fuhr sie herum.

„Ich weiß, wie ich den Drachen nennen werde, Ben. NOVEMBER... Wie der Monat, in dem ich das Ei gefunden habe", quoll es aus ihr heraus. Verträumt spielte sie mit ihren Haaren.

Auf einmal spürten wir, wie der Zug allmählich langsamer und die Umrisse von London deutlicher wurden. Stimmen waren zu hören, und weißer Dampf stieg zischend in die eiskalte Herbstluft. Ich stand von meiner Bank auf und wollte gehen, als Eva mich am Arm packte.

„Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder. Vielleicht ist dann November bereits geschlüpft", ließ Miss Clarke mich wissen. Sie sah mich an.

„Sie sind eine interessante Person, Ben, wer weiß, was Sie noch an Abenteuer vor Ihnen haben."

Ich nickte unsicher und griff nach meinem Aktenkoffer. Eva hob ihr Weinglas und nickte mir zu, als der Zug in den Bahnhof Londons fuhr.

„Auf ein baldiges Widersehen", flüsterte sie und nahm einen Schluck des Weines.

Einen letzten Blick warf ich ihr noch zu und verließ schließlich den Zug. Draußen war es bitterkalt, zu kalt für meine Bedürfnisse. Es wimmelte von Menschen, die dick eingepackt in grauen Mänteln eilig zum Zug liefen.

Das seltsame Gespräch mit Eva Clarke hing mir noch lange in den Gedanken. Was für eine merkwürdige junge Frau sie war! Dracheneier?Eva war sichtlich keine Person, der man täglich in den Städten begegnete. Meistens waren die Leute verschlossen, mürrisch, und nicht so neugierig und kindlich wie sie.

Aber Drachen? Gab es sie wirklich?

„Sicherlich nicht", murmelte ich vor mich hin. Doch ich hätte schwören können, eine leise Stimme in meinem Kopf behauptete genau das Gegenteil.

NOVEMBERWo Geschichten leben. Entdecke jetzt