1. Juni
Ich hatte mir die Halle vor vielen Jahren gekauft. Sie war sehr geräumig, aber damals war sie desolat. Es hatten an einigen Stellen Ziegeln oder Bretter gefehlt, was bei Regen besonders unangenehm wurde. Doch vor einiger Zeit hatte ich sie renoviert, sodass ich ungestört an meinen neuesten Erfindungen arbeiten konnte.
Große Holzteile, Nägel, Kupfer, Messing und Metallteile lagen kreuz und quer auf dem alten, abgenutzten Arbeitstisch, auf dem ich oft bis spät in die Nacht arbeitete. Die Halle lag etwa eine halbe Stunde von meinem Haus entfernt. Anstatt sich ein Pferd zu leisten, steckte ich mein Erspartes lieber in neue Utensilien für meine Werkstatt. Es gab verschiedene Uhren, ein paar Kinderspielzeuge aus Kupfer und einen Kleiderständer aus Holz mit kleinen Schnitzereien. Eines der Spielwaren konnte sogar mithilfe eines Propellers fliegen.
Doch das, was mich in den letzten Monaten am meisten beschäftigt hatte, war der Ballon. Er lag in der Ecke, bedeckt von einer großen, alten Plane, auf der das letzte Sonnenlicht fiel. Es war Abend.
Auf einmal hörte ich Schritte hinter mir. Ich drehte mich um.
Ein Kunde?
Besuch hatte ich auch nur selten. Doch es war kein potentieller Käufer.
Es war Eva Clarke. Die verrückte Miss, die vor knapp einem Monat mit ihrem kleinen Drachen mein Haus besucht hatte.
Ich ließ vor Schreck mein Werkzeug fallen. Sie sah erbärmlich aus. Die Schuhe waren halb offen und ihre sonst so wirren Haare, sahen noch um vieles ungepflegter als sonst aus. Evas Haut war kränklich blass und ihre Augen hatten rote Ränder.
„Ben!", rief sie aus in brüchiger Stimme. Ich trat näher, um zu erfahren, was passiert war.
„NOVEMBER! Sie haben ihn mitgenommen", schluchzte sie und wischte sich die Tränen in den Ärmel.
„Wer?", fragte ich verdutzt und erinnerte mich sogleich an den kleinen roten Drachen mit dem ungewöhnlichen Durst nach Kaffee.
„Diese französische Gräfin, Mary Levett, und ihre Männer. Sie haben November nach Frankreich mitgenommen, ihn dort eingesperrt... und...", sie weinte sie erbärmlich in meine Schulter und sah mich dann mit gläsernen Augen an.
„November ist einfach zu groß geworden. Ich konnte ihn nur schwer geheim halten. Und eines Tages haben sie ihn gefunden und mitgenommen... zu meiner EIGENEN Sicherheit, sagten sie. Können Sie sich das vorstellen? Wir... wir müssen unbedingt nach Frankreich... Heute noch", flüsterte sie verzweifelt.
Verwirrt wandte ich mich von ihr ab:
„Wie wollen Sie das anstellen? Das nächste Schiff fährt erst in einer Woche..."
Eva richtete sich auf. Sie hielt an ihrem Willen eisern fest:
„Denken Sie doch nach, Ben! Wir brauchen kein Schiff! SIE haben etwas viel Besseres!"
Eva wandte sich zum Ballon und riss die alte Plane weg, sodass der Staub in alle Richtungen wirbelte. Auf einmal erkannte ich ihr Vorhaben und meine Augen weiteten sich vor Aufregung.
„Wir starten heute Nacht. Packen Sie alle notwendigen Sachen und machen Sie den Ballon startklar. In drei Stunden treffen wir uns vorne auf der Wiese in Ihren schönstem Gewand", kommandierte sie in einem ungewohnten klaren Ton.
Verwirrt sah ich sie an.
Breit grinsend wandte sich mit abschließenden Worten an mich:
„Lassen Sie sich überraschen, Ben."
Um kurz vor neun Uhr stand ich auf der Wiese vor der Halle. Den Ballon hatte ich mit sehr viel Anstrengung mit einem Rollkarren auf das Gras geschleppt, und die nötigen Vorbereitungen für den Start getroffen. Die Hülle des Ballons lag schlaff auf dem Boden. Der Korb war meiner Meinung groß genug für Miss Clarke und mich. Wie wir dann wieder nach London und dann mit November kommen konnten, war ein anderes Problem, mit dem ich mich jetzt nicht beschäftigen wollte.
Ich hatte mir meinen schönsten Anzug angezogen, auch wenn ich nicht den Grund dafür kannte. Eine dunkelgrauen Hose mit gleichfarbigem langen Mantel und einer weißen Fliege am Hals wurde optisch durch einen dunklen Hut ergänzt. Meine Schuhe waren pechschwarz und das Leder glänzte leicht im Mondlicht.
Auf einmal sah ich Eva.
Sie trug ein sehr langes dunkelrotes Kleid. Ein gleichfarbiges Korsett schmückte ihre schmale Taille. Die langen Ärmel reichten bis über die Handgelenke. Der Kragen des Oberteils war hoch und wurde wie der Rest des Kleides mit mehreren, feinen Rüschen betont. Auf der leichten Schleppe waren kleine, schwarz bestickte Muster zu sehen.
Ich sah hoch und bemerkte, dass sich Miss Clarke ihre sonst so wirren Haare mit Gel gebändigt hatte und nun schöne glänzende, große Locken über ihren Schultern hingen. Sie hatte sich geschminkt, und auf ihrem Kopf trug sie einen zierlichen Hut, auf dem feine, helle Blumen steckten.
Eva grinste, als sie mich sah. Zur Begrüßung eine Umarmung gab sie mir eine Umarmung.
„Lass uns aufbrechen. Schicker Anzug übrigens...", entkam ihr, während sie mich für einen Moment begutachtete, ihre Reisetasche fest in der Hand.
Gemeinsam stiegen wir in den Ballonkorb. Sofort fachte ich die Flamme im Dampfkessel an. Weißer, dicker Rauch drang bald in die noch schlaffe Hülle, welche sich allmählich in der kühlen jungen Juninacht aufstellte.
Danach wandte ich mich zu den Sandsäcken, die am Rand des Korbes befestigt waren, und band sie los. Langsam erhob sich der Korb von der Erde und fuhr sachte in Richtung Himmel. Lachend beugte sich Eva über den Rand und genoss die Aussicht, als wir langsam über London hinwegsegelten. Die Luft war angenehm frisch und roch nach Wäldern. Der Mond schien besonders hell und verleite mir und Eva eine schöne Aussicht über die Landschaft, die nun unter uns war.
Hastig regelte ich am Dampfkessel herum, damit wir in die richtige Richtung flogen. Ich hatte mir einen meiner selbstgemachten Kompasse mitgenommen, der nicht nur die Himmelsrichtungen, sondern auch die Temperatur und Uhrzeit anzeigte.
„Wo genau liegt eigentlich Levetts Schloss?", wollte ich von Eva wissen.
„In der Nähe von der Stadt Calais, falls Sie die kennen. Das Anwesen der Gräfin liegt sehr nahe am Meer", kam es prompt retour.
Ich kramte nach meiner Karte und nickte zustimmend, als ich sie studierte.
„Woher wissen Sie eigentlich solche Sachen immer? Wo ich etwa wohne... oder wo Levetts Schloss liegt?", fragte ich Eva etwas irritiert.
„Wissen Sie, Ben, ich habe exzellente Verbindungen zu den verschiedensten Leuten in der Stadt. Außerdem brauchte ich nur bei ihrer früheren Arbeit, der Bank, nach ihrer Adresse nachfragen", antwortete die Miss grinsend und tätschelte mir auf die Schultern. Dann legte sie sich am Boden auf den Rücken, mit den Beinen angewinkelt, was nicht so einfach bei ihrem Kleid war.
Unsicher legte ich mich neben sie und starrte mit ihr nach oben in den Sternenhimmel. Der Mond schien auf uns herab und tränkte den Korb des Ballons in ein schimmerndes Weiß.
„Wissen Sie", flüsterte Eva, „ich glaube fest daran, dass Menschen eines Tages zum Mond fliegen können."
Ich unterdrückte mir ein Lachen:
„Auf den Mond? NIEMALS! Menschen können nicht fliegen, und auf den Mond schon gar nicht. Schlagen Sie sich das bloß aus dem Kopf!"
Sie runzelte die Stirn.
„Aber stellen Sie sich vor, man könnte dort oben spazieren gehen. Einfach so. Und London und die ganze Erde von Weitem betrachten... Vielleicht lebt am Mond auch jemand und starrt womöglich gerade zu uns herab... und überlegt, wie es wohl wäre, hier zu sein."
Das wäre wunderbar!
Doch ich wusste, dass das unmöglich war. Auf den Mond hatte nie ein Mensch seinen Fuß gesetzt, und so wird es auch für immer bleiben. Jedoch der Gedanke war verlockend! Ich schloss die Augen. Der Ballon flog langsam und sachte sich im Wind bewegend nach Frankreich über das dunkle Meer.
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NOVEMBER
Short Story---Erscheint bald in der "Tin-Soldiers"Anthologie von Sarturia--- (London, Ende des 19. Jahrhunderts) Wie sehr kann eine Bekanntschaft dein Leben für immer verändern? -Diese Frage muss sich Ben stellen, als er auf einer Zugfahrt eine merkwürdige Fra...