11. Mai
Ich war auf dem Weg zurück nach Hause. Es war angenehm warm. Die späte Nachmittagssonne erhellte die menschenleere Straße vor mir, sodass meine langen Schatten auf der gestampften Erde sichtbar waren. Es hatte geregnet. Große, schmutzige Lacken waren überall zu sehen. An den Straßenrändern türmte sich der Dreck bis zu den Hausmauern. In den Nächten wimmelte es hier oft von Ratten und anderen Tieren, da diese Straße nur kaum befahren und am Rand von London war. Die meisten Kutschen fuhren im Stadtinneren, nur selten verirrten sich welche hierher.
Ich hielt vor meinem kleinen unscheinbaren Haus, ein Reihenhaus aus groben Ziegeln. Die Nachbarhäuser sahen auch nicht viel besser aus.
Auf einmal fiel mein Blick auf einen Brief vor meiner Tür. Überrascht hob ich den Umschlag auf und riss ihn gleich auf. Aufgeregt las ich den Brief durch, der mit schwarzer, klecksender Tinte geschrieben war:
Werter Mister Stevens,
November ist vor einem Monat geschlüpft und ist gesund und munter. Falls es Sie nicht stört, würde ich Sie gerne am 11. Mai gegen 20 Uhr bei Ihrem Haus treffen. Stellen Sie bitte je einen Eimer voll Kaffee (November mag ihn ohne Zucker und Milch) und Fleisch, so viel wie möglich, bereit
Auf ein baldiges Widersehen,
Eva
Völlig verwirrt starrte ich auf das Stück Papier, als ich mein Haus betrat.
Eva.
Irgendwo hatte ich diesen Namen bereits gehört.
Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Es war Eva Clarke, die Frau, welche ich vor einem halben Jahr während meiner Zugreise gesehen hatte.
Jene Verrückte, die ein Drachen Ei in ihrer Handtasche schleppte...
Aber November war GESCHLÜPFT? Das konnte doch nur ein schlechter Scherz sein, zudem bereits der 11. Mai war! Das bedeutete, dass nicht sehr viel Zeit bis acht Uhr mehr war...
Noch einige Male las ich mir den Text durch. Dann eilte ich zu meinem Herd und stellte Wasser für Kaffee zu. Dafür brauchte ich jedoch einen ziemlich großen Topf. Während das Wasser brodelte, kramte ich noch die letzten Kaffeebohnen hervor, zermahlte sie und leerte sie in das zischende Wasser. Es roch angenehm nach Kaffee im ganzen Haus.
Nachdenklich fuhr ich mir durch die kurzen, braunen Haare. War ich verrückt geworden? Ich betrachtete den riesigen Kochtopf mit den vielen Litern an Kaffee darin. Warum tat ich denn das alles?
Jetzt stellte ich mich der schwierigsten Aufgabe, dem Fleisch. Eilig verließ ich das Haus und rannte zu einem Marktverkäufer, den ich kannte. Dieser sah mich neugierig zu dieser späten Stunde an und zudem sehr schockiert, als ich ihm von meiner Wunschmenge erzählte.
„Was um Himmels Willen wollen Sie denn damit tun, Sir? Einen DRACHEN füttern?", witzelte er und hielt sich lachend seinen großen Bauch.
Ich lächelte unsicher und bezahlte lieber stumm. Schwer bepackt trottete ich nach Hause.
Etwas später pochte es an meiner Tür. Ich zuckte zusammen und öffnete sie.
In der Abenddämmerung erkannte ich eine junge Frau, mit einem purpurroten Mantel, schwarzen Stiefeln und der mir bekannten schlampig zusammen gesteckten Lockenmähne, die wirr über ihre Schultern fiel. Hinter ihr erspähte ich eine große Holzkiste, welche ihr zu den Hüften reichte. Mit einem flauen Gefühl im Magen bemerkte ich, dass die Kiste Löcher hatte. Klopfgeräusche drangen zu mir.
Eva Clarke kam auf mich zu und begrüßte mich mit ihrer typischen quirligen Art: „Das ist ja ein nettes Haus, das Sie da haben, Ben!", und hievte die große Kiste auf den Steinboden in die Mitte des Zimmers.
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NOVEMBER
Short Story---Erscheint bald in der "Tin-Soldiers"Anthologie von Sarturia--- (London, Ende des 19. Jahrhunderts) Wie sehr kann eine Bekanntschaft dein Leben für immer verändern? -Diese Frage muss sich Ben stellen, als er auf einer Zugfahrt eine merkwürdige Fra...