Gräfin Levett ->4<-

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Die Sonne war gerade aufgegangen, und färbte die von Wasser umspülten Klippen in ein tiefes Morgenrot. Auf der einen Seite erstreckte sich das Meer, das Wasser glitzerte in den ersten Sonnenstrahlen des Tages, auf der anderen lag ein kleiner Wald. Eva Clarke und ich hatten nach geglückter sanfter Landung den Ballon bei den Klippen versteckt, sodass andere ihn nicht finden würden.

Wir schritten eine schwache Stunde auf einem kleinen Waldweg entlang, als wir endlich den Eingang zum Anwesen erreichten. Zu dem prachtvollen Schloss führte ein fast schon Tunnel aus Büschen und Blumen durch den weitläufigen Garten. Staunend versteckten wir uns im Gebüsch vor dem Gebäude.

Eva deutete zum Eingang, der aus einem großen, silbernen Tor bestand. Ein Wachmann stand dort und starrte in die Leere. Die junge Frau grinste, nahm einen Stein und warf ihn ein gutes Stück weiter rechts in die Büsche. Die Wache wandte sich zum Geräusch und hastete schnell zu der besagten Stelle. Daraufhin rannte die bereite Miss so schnell, wie sie es mit ihrem Kleid konnte, durch das Tor hinein in den Garten der Gräfin.

Ich folgte ihr unsicher, wenn auch rasch, und versteckte mich mit ihr ein paar Meter hinter dem Tor in einer Hecke. Es war zwar nicht sehr angenehm, da Dornen in meinen Rücken stachen, aber zumindest blieben wir unentdeckt.

„Bald werden ein Mann und eine Frau den Weg hier zum Schlosseingang gehen... Wissenschaftler aus Manchester, um November zu sehen. Da die Gräfin die beiden noch nie zu Gesicht bekam, könnten wir uns an ihrer Stelle ins Schloss begeben und uns als diese ausgeben", wispert Miss Clarke.

Bei dem Gedanken an ihren Vorschlag wurde mir übel.

Und wenn wir auffliegen?

„Aber, woher weißt du das alles?", fragte ich genauso leise.

„Ich kenne John, einen der Leibwachen der Gräfin. Wir schreiben uns oft Briefe... Nun, er bekommt viel von Levetts Treiben mit.", flüsterte Eva mit breitem Grinsen.

Schon lächelte ich in mich hinein.

Natürlich... Eva kennt doch jeden! Warum nicht?

Die junge Miss fummelte auf einmal in ihrer Tasche und zog zu meinem Entsetzten eine kleine Stahlpfanne heraus. An mehreren Stellen rostete sie bereits.

„Miss, ist das Ihr Ernst...", begann ich, aber sie legte nur ihre Finger auf die Lippen und zeigte wortlos zum Tor.

Zwei Personen waren erschienen. Eine junge Frau mit ernstem Gesichtsausdruck und ein älterer Mann in einem schwarzen Anzug.

Als die beiden Gestalten langsam an unserer Hecke vorbei kamen, sprang Eva hervor und schlug die Pfanne mit aller Kraft auf die Hinterköpfe der beiden Wissenschaftler. Es ging so schnell. Entsetzt riss ich die Augen auf und starrte auf die beiden, die nun regungslos am Boden lagen.

„Was zum...", stammelte ich verwirrt, doch Eva stoppte mich.

„Sie sind nur bewusstlos! Nun aber schnell mit ihnen in die Büsche!"

Rasch hievten wir daher die beiden Menschen ins Dickicht.

„Hoffentlich wachen sie nicht so bald auf! Wir müssen uns beeilen", flüsterte sie und durchsuchte die Taschen der Wissenschaftler.

Eilig steckte sie mir einen Geldbeutel und zwei Reisepässe zu.

„Helena und Bill Schmidt heißen die beiden", las ich leise vor. Eva nickte stumm. Im Reisepass stand, dass sie an der Royal Universität Manchester Naturwissenschaften lehrten und verheiratet waren.

Rasch ließ ich die Sachen in meiner Jackentasche verschwinden und wandte mich zu Miss Clarke hin. Ich nahm ihren Arm und wir schlenderten bewusst wie ein normales Ehepaar zum Schloss. Eva war sehr blass und war anscheinend genauso nervös wie ich, als wir vor der großen Pforte stehenblieben.

Ein Wachmann stand dort.

„Mr. und Mrs. Schmidt, wie ich annehme?"

Wir nickten stumm. Die Wache betrachtete uns eingehend.

„Können Sie sich ausweisen?", befahl der große Mann.

Etwas zitternd nickte ich und reichte die Reisedokumente dem Mann vor uns. Brummend las dieser und gab sie dann wieder zurück.

„Bitte, die Gräfin erwartet Sie bereits!", kam es aus seinem Mund. Er öffnete die Tür und ließ uns eintreten.

Im Inneren des Schlosses war es angenehm kühl. Die Eingangshalle war groß und geräumig. Der Boden bestand aus blank poliertem Holz, und an den Wänden hingen Bilder früherer Grafen.

Das Herz pochte mir bis zum Kopf.

Mein Gott, da kommt sie!

Die Gräfin kam auf uns zu. Die alte Frau hatte graue, gelockte Haare und ein hellgelbes Kleid. Ihr Gesicht war blass und von vielen feinen Falten überzogen. Madame Levett lächelte und durchbohrte uns mit ihren milchigen Augen.

„Mr. und Mrs. Schmidt! Schön Sie zu sehen! Was für eine nette Geste, mich zu besuchen.", hauchte sie und reichte uns die Hand.

Eilig führte sie uns in ihr lichtdurchflutetes Büro. In der Mitte stand ein Tisch, auf dem sich mehrere Briefe und Habseligkeiten türmten. Levett ließ sich auf ihrem Stuhl nieder. Wir taten es ihr gleich. Ich wagte einen kurzen Blick zu Eva, die merklich zitterte.

„Wie Sie womöglich aus meinen Briefen wissen, habe ich auf meinen Reisen ein Drachen Ei gefunden", begann die Gräfin, was sofortige Wut in mir auslöste.

Ich wusste, dass DAS nicht stimmte. EVA hatte das Drachen Ei gefunden!

„Natürlich tue ich alles, um diese Bestie vor uns zu schützen und habe SIE in mein Glashaus gesperrt", fuhr sie ernst fort. Dabei klimperten mehrere Schlüssel auffallend an einer Kette um ihren Hals.

„Dürften mein Mann und ich den Drachen sehen?", fragte Eva mit brüchiger Stimme.

„Natürlich, meine Liebe! Aber ich hätte dies erst für später geplant", antwortete die Gräfin.

„Wissen Sie, ich glaube es wäre angenehmer für Sie, Mrs. Schmidt, wenn doch diese Bestie bereits tot wäre, nicht?"

„Nein!", rief Eva, ein bisschen zu schnell.

Levett sah sie misstrauisch an.

„In einer Stunde werde ich meine Männer schicken, um das DING umzubringen. Dann können Sie sich sorgenfrei mit ihm beschäftigen. Wenn Sie wollen, dürfen Sie die Haut mit nach Manchester nehmen", schlug Madame vor.

Ein lautes Geräusch unterbrach sie. Ein Mann stürmte durch die offene Tür, gefolgt von zwei Personen. Mein Magen drehte sich um und mir wurde übel. Es waren die zwei Schmidts.

Oh nein, die ECHTEN!

Der Wache rief sofort:

„Gräfin, wir haben die beiden bewusstlos im Garten gefunden. Sie behaupten, Sie wären Mr. und Mrs. Schmidt!"

Madame Levett starrte zunächst auf Eva und mich und dann zu den echten Schmidts.

Plötzlich stürmte Miss Clarke vor und riss die Kette mit den Schlüsseln vom Hals der Gräfin. Ehe diese realisierte, was geschah, war Eva schon mit mir am Wachmann vorbeigezischt. Schon waren wir draußen am Gang. Mit ihrem langen Kleid in den Händen sputete die junge Frau durch die langen Gänge, gefolgt von mir.

Oh Gott, oh Gott...

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