Kapitel 4

75 32 19
                                    

Freitag,  28.6.2019 / Camillas Sicht

Die Fahrt zum Restaurant meiner Eltern erschien mir wie eine kleine Ewigkeit und die vorbeiziehenden Lichter der Nacht verstärkten den Effekt noch mehr. Natürlich fuhr Shawn in einem anderen Gefährt der Firma – einerseits gehörte es sich dem Gast ein gewisses Mass an Privatsphäre zu zuteilen, andererseits hätte ich es wohl kaum ausgehalten, wenn sein Geruch den kleinen Raum der Limousine vollständig ausgefüllt hätte.

Ich seufzte leise auf und drückte die Hand fest auf mein pochendes Herz. Die betrunkenen Ausrutscher ausgeschlossen, war es nun mehr als sechs Monate her, seitdem wir das letzte Mal so richtig miteinander geredet hatten. War das zu fassen?

Und nun, nach all dieser Zeit in der ich es endlich geschafft hatte einigermassen geregelt in mein Leben zurückzufinden, tauchte er wieder von neuem auf, um mich aus meiner Bahn zu werfen.

Noch grösser aber schien mir das Fragezeichen, warum meine Mutter so stark an diesem Kontakt interessiert war. Ich erinnerte mich noch haarscharf an die Worte die sie verwendete, welche den eigentlichen Auslöser für all dieses folgende Elend gewesen war. So wie sie wöchentlich ihre Nagelfarbe änderte, änderte sie jetzt auch ihre Meinung.

Was sollte ich nur tun?

Ich versuchte mir in einer Art der Meditation vorzustellen, auf welche Art und Weise mich Shawn heute Abend wahrnehmen sollte und wie mir das vor allem gelingen würde. Ich verstand, dass mein Schauspiel perfekt und absolut lückenlos sein musste, denn es gab niemanden der besser wusste, wie man mich zu deuten und verstehen hatte. Aber ich würde genau so sein, wie mich meine egozentrische Mutter erzogen hatte – unerreichbar, uninteressiert, kalt und abschätzend. Da ich in den letzten Monaten nur so gelebt hatte, sollte es auch heute Abend kein Problem sein diese Rolle weiter zu spielen.

Ich drehte das durchsichtige Plastiktütchen zwischen meinen Fingern hin und her. Jede der verschiedenfarbigen Pillen war durch ein winziges Miniaturemoji gekennzeichnet. Was es auch war – Ecstasy oder LSD, vielleicht auch beides – eine oder zwei dieser schnucklig ausschauenden Zaubertablettchen würden heute Nacht hinter meinen Zähnen verschwinden. Elijah würde wie immer den Spass mit mir teilen.

Gedankenabwesend schob ich das Päckchen in meinen BH und erkannte an dem sanften Ruckeln, dass die Limousine vor dem Gourmet Restaurant angehalten hatte. Ich betrachtete mich ein letztes Mal in dem kleinen Handspiegel, verstaute ihn in meiner teuren Tasche und schwang dann die Beine durch die Tür, welche vor wenigen Sekunden von meinem Chauffeur zuverlässig geöffnet wurde. Noch bevor ich mit meinen High Heels den Boden berührte, bemerkte ich den leichten Gleichgewichtsverlust. Ich fühlte mich auf einmal seltsam aufmerksam, wach aber auch ausgeglichen und tiefenentspannt– erst jetzt wurde mit bewusst, dass das Kokain bald vollständig seinen Wirkungsgrad entfacht haben würde.

Shawn stand schon bereits neben meiner Limousine bereit und hatte die Arme lässig hinter seinem Rücken verschränkt. Wenn mein Herz nicht so von der Droge betäubt gewesen wäre, hätte es mir vermutlich wegen seinen Schönheit bis zum Hals hinauf geschlagen.

Sobald er mich sah, begann er langsam und behutsam auf mich zu zukommen. Seine Augen wandten nicht eine einzige Sekunde von mir ab und es kam mir fast schon so vor, als würde er jeden Zentimeter meines Gesichtes absuchen und in seinem Gehirn verankern. Als er schliesslich direkt vor mir stand und mir tief in die Augen schaute, begann er plötzlich schüchtern zu lächeln und zeigte mir seine wunderschönen weissen Zähne. Ich verfolgte gerade abwesend der Verlauf einer seiner ins Gesicht fallenden Haarsträhnen, da drang seine melodische Stimme tief in mein Bewusstsein ein.

«Hi», hauchte er ganz simpel und versteckte seine Nervosität erneut hinter einem spielerischen Lächeln.

Ich nickte als Begrüssung mit meinem Kopf, aber konnte nicht die Energie, weder den Willen aufbringen, ihm irgend eine Art von Anerkennung entgegen zu bringen. «Schön dich wiederzusehen», rutschte es dennoch kalt über meine Lippen und mein Tonfall und der Ausdruck in meinen Augen verriet ohne Zweifel die Lüge in meiner Begrüssung.Er zuckte leicht zusammen.

Alone in the darkWo Geschichten leben. Entdecke jetzt