Eins

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Aufgeregt lief der junge Mann in seinem großen Wohnzimmer auf und ab, welches nach mehreren Monaten endlich wieder eine normale Gestalt angenommen hatte. Seine Haare lagen schon kreuz und quer auf seinem Kopf, fielen ihm teilweise in die Stirn, während er immer und immer wieder durch sie fuhr. Ganz so, als könnte es ihn auf eine gewisse Weise beruhigen.

Eine rege Unruhe herrschte in ihm und ein ungeahnt schlechtes Gefühl breitete sich in seinem Magen aus, während er sich auf der Couch nieder ließ und sein Gesicht in seinen Händen bettete. Unbewusst biss er sich auf die Unterlippe, zog sie immer wieder zwischen die Zähne und wagte es nicht einmal aufzuhören, als er ein paar Tropfen Blut spürte, sich dieser unverkennbare Geschmack auf seine Zunge legte. Den Schmerz, der dabei durch seinen Körper zucken musste, schien er nicht mal wahrzunehmen.

So viele Kommentare, so viele Nachrichten. Sei es unter jedem einzelnen Bild auf Instagram oder jedem Tweet auf Twitter. Nicht mal bei seinen Videos war er sicher vor der Bitte, den Kampf gegen Rob und gegen Team Bro wieder aufzunehmen. Das zu machen, was ihnen am meisten gefiel. Die Rache an den jeweils anderen, wie in einem schier endlosen Kreislauf.

Er hatte an sich nichts dagegen, seinen Zuschauern diesen Wunsch zu erfüllen. Es war auch nicht sonderlich einfach, den Drang danach, ihnen das zu bieten und es so vielen wie möglich recht zu machen, zu unterdrücken. Immerhin konnte man es seinen Job nennen. Er war darauf angewiesen, dass sie von dem begeistert waren, was er ihnen bot und sie ihn darüber hinaus unterstützten. Und dafür war er eigentlich so unfassbar dankbar, er war tatsächlich verdammt glücklich darüber.

Und doch erschauderte er bei dem Gedanken, dass es erneut begann. Die kleinen Streiche, die Wechsel der Pranks zwischen ihnen, es war nicht so, dass er ihnen mit einem großen Missfallen entgegen trat. Ganz im Gegenteil, es hatte ihm Spaß gemacht und insgeheim hatte er auf die Antwort Robs gewartet. Gehofft, dass er das nicht auf sich sitzen lassen würde. Es war lediglich eskaliert. Zu schnell wurden zu viele Grenzen überschritten und der eigentliche Sinn war verloren gegangen. Letztendlich ging es nur noch darum, dem anderen den größtmöglichen Schaden zuzufügen, statt eine brüderliche Auseinandersetzung zu verwirklichen.

'Keine Regeln.' hatten sie sich gesagt und letztendlich hatten sie sich auch daran gehalten. Er hatte noch immer, schon Wochen danach, nicht realisiert, was in den letzten Monaten passiert war. Er wusste nur, dass ihm das definitiv über den Kopf gestiegen und er mehr als nur froh gewesen war, als Staffel Zwei ein Ende gefunden hatte. Wenn dieses auch mehr als nur random war.

Ihren Waffenstillstand hatten sie verschwiegen, sie hatten nicht erwähnt, dass sie vorerst anderen Projekten nachgehen würden. Bevor sie sich erneut aufeinander fixierten. Bis vor kurzem hatte er auch geglaubt, dass sein guter, wenn nicht mittlerweile sogar bester, Freund es ähnlich gesehen hatte. Hätte er nicht zufällig den Müll raus gebracht und damit eher unfreiwillig gelauscht, wäre er gar nicht auf die Idee gekommen, das zu überdenken. Hätte sein Vertrauen Rob gegenüber nicht angezweifelt, welches dort eindeutig ins Wanken geraten war.

"Ich glaube nicht, dass ich das durchziehen kann. Ich will keine schlafenden Hunde wecken und das ist mir doch schon eine Nummer zu heftig. Das will ich Simon nicht antun." hatte er ihn damals deutlich sagen gehört, während Rob und Jimmy fröhlich von ihrem Auto zur Haustür schlenderten. Der weiteren Diskussion hatte er gar nicht mehr folgen können.

Es hatte mehrere Minuten gedauert, bis er das verstanden hatte und sich bis dahin nicht einen Zentimeter bewegt. Ihm war der ekelhafte Geruch der Mülltonnen tief in die Nase gestiegen und bis heute war es ihm ein Rätsel, wie er den so leicht ignorieren konnte. Denn es waren noch mehr Minuten vergangen, bis er die Tüten in die Behälter verfrachtet und dem Chaos in seinem Hirn Einhalt geboten hatte. Bis er sich von seiner geschützten Stelle hinter der Mauer gelöst und den Weg nach oben angetreten war.

Jetzt, wo er das wie so oft hatte Revue passieren lassen, hatte er den Knoten, der seine Lunge beinahe schmerzlich zusammengepresst hatte, orten können. Ein leises Seufzen entfloh seinem durchaus trockenen Mund,  als er dieses merkwürdige Gefühl identifizieren konnte, als er registrierte, welche Bedeutung es hatte.

Es war die Angst vor dem Kommenden. Er konnte sich vorbereiten, wusste, dass ihn etwas schauriges erwarten wird. Im Endeffekt brauchte er sich gar nicht so viele Sorgen machen, denn es gab nicht viele Dinge, die sie noch nicht über einander wussten und was sie wagen würden. Denn auch wenn das Alles Dimensionen angenommen hatte, die er nicht erfassen konnte. Er wollte sich nicht eingestehen, dass Rob vielleicht doch zu weit ging. Dass er eine Grenze überschritt, die ihre Freundschaft nicht nur auf die Probe stellte, sondern direkt dem Erdboden gleich machte.

"Simon, du hilfst doch sicherlich deiner Lieblings besten Freundin." fragte die Blondine, die der Angesprochene schon beinahe vergessen hatte und unwillkürlich zuckte er zusammen, als sich ein warmer Körper neben ihm platzierte und sich förmlich an ihn schmiegte.

Irritiert blickte er zu ihr, musterte ihre belustigte und bettelnde Miene. Sie hatte sogar angefangen mit den Wimpern zu klimpern, als könnte es ihn noch mehr überzeugen. Dabei wussten sie beide nur zu gut, dass er ihr letztlich keinen Wunsch abschlagen konnte. Sie waren sich vielleicht nicht immer einig, auch wenn es vor der Kamera anders wirkte, aber er hatte sie tief ins Herz geschlossen. Er wollte sie in seinem Leben kaum mehr missen, wie eine kleine Schwester, die er unter allen Umständen beschützen wollte.

"Also ich dachte, es wäre Zeit, ein paar Gerüchte zu streuen. Ich mache doch dieses Video über den Valentinstag. Möchtest du mein Traumdate sein? Schließlich hast du schon Erfahrungen im richtigen Schauspiel gewinnen können." plapperte sie drauf los und lächelte noch breiter, als Simon sich aus dieser halben Umarmung heraus wand und sich so hinsetzte, dass er sie besser ansehen und ihr folgen konnte.

Wenn er ehrlich war, wusste er nicht wirklich, wovon sie geredet hatte. Das letzte Mal, als sie diese Idee erwähnt hatte, konnte sie nicht einmal den Rahmen benennen, in dem das alles ablaufen sollte. Dass sie nun einen festen Plan hatte und wusste, was passieren sollte, überraschte ihn ein wenig. Denn sonst war bei ihr alles durcheinander, bis es hochgeladen war. Selbst beim Schneiden hatte sie noch lange nicht den Durchblick, der von ihrem leichten Perfektionismus abverlangt wurde.

Doch am prägnantesten waren die Gerüchte bei ihm hängen geblieben. Es war nicht so, dass er nicht schon die wildesten Theorien gelesen hatte und er gefühlt mit allen in seinem Umfeld in einer Beziehung zu sein schien. Er hatte schon lange aufgehört zu zählen, wie oft ihm die Frage, ob er denn mit Jana zusammen wäre, gestellt worden war und auch gelernt das geflissentlich zu ignorieren. Wenn er an Concrafter dachte, der seine Freundin unterschwellig in seinen Videos integriert hatte, konnte er nicht einmal abstreiten, dass er es nachvollziehen konnte. Es war nicht sonderlich abwegig, dass nun auch andere auf diese Methode zurückgriffen.

Aber auf die beiden traf es nicht zu. Nicht, dass ihm das noch nie in den Sinn gekommen war. Er hatte sie sehr schnell sehr sympathisch gefunden und es gab tatsächlich Momente, in denen er in Erwägung zog, den Status zwischen ihnen zu ändern. Wie sie dann beide gleichzeitig so tief in die Friendzone gerutscht waren, konnte er nicht sagen. Aber er war froh darum, konnte sie als eine der wenigen Personen benennen, denen er wirklich alles anvertrauen würde und das wollte er nicht mehr hergeben.

"Hörst du mir überhaupt zu, Simon? Ist etwas?" vernahm er ihre Stimme viel zu nahe an seinem Ohr und biss sich erneut auf die Lippe. Die Sorge war ihr deutlich ins Gesicht geschrieben, während sie ihn skeptisch musterte. So unaufmerksam war er schon lange nicht mehr gewesen und das irritierte sie.

"Die letzten Nächte waren nur ein wenig kurz und die Müdigkeit fordert scheinbar ihren Tribut. Aber ich sage einfach mal ja. Du weißt doch, dass ich dir immer gerne helfe." brachte er bedacht hervor und sah ihr in die strahlenden Augen. Es war zumindest nicht ganz gelogen, die Erschöpfung lag ihm tief in den Knochen und wenn ihn nicht ein ganz bestimmter Grund, den er absichtlich nicht erwähnt hatte, davon abhalten würde, würde er sich auch die Zeit nehmen, sich dieser zu ergeben.

Sein Nicken sollte lediglich als Unterstützung seiner Aussage dienen und so war er nicht ansatzweise darauf gefasst, dass die Blondine sich rigoros in seine Arme warf und die eigenen um seinen Körper schlang. Darauf folgten mehrere Minuten, in denen er sich förmlich erdrückt fühlte und verzweifelt versuchte, eine Position zu finden, in der er es wenigstens ertragen konnte. So wie sie saßen, drückte ihre Schulter unangenehm gegen seine eigene und lediglich der Fakt, dass sie sich förmlich an ihn kuschelte, sobald er sich weiter zurückgelehnt hatte, ließ ihn  das vergessen und wieder schmunzeln.

Keine Regeln - Sährob/Team BrillWo Geschichten leben. Entdecke jetzt