Sechs

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Eine eisige Stille herrschte in der großen Wohnung und wäre es ein Film gewesen, hätte man spätestens jetzt die Grillen zirpen hören können. Stattdessen lag sie schwer auf seinem erschöpften Körper, schien ihn regelrecht zu erdrücken und die Luft zu rauben. Er glaubte sogar, den Schlag seines Herzens als dumpfen Ton wahrzunehmen, der mal ein schnelleres und mal ein viel zu langsames Tempo annahm.

Drei Wochen waren seit dem Prank vergangen und Simon hatte sich noch immer nicht richtig erholt. Er hatte zwar seinen normalen Alltag aufgenommen und sich nichts anmerken lassen, zumindest hatte Jana ihn noch nicht darauf angesprochen. Aber er war nicht bei der Sache, schwebte mit seinen Gedanken immer wieder in ganz anderen Hemisphären.

Er hatte Rob ignoriert. Er stand öfter vor seiner Tür, hatte nicht nur sein Telefon terrorisiert, sondern gleich seine gesamten Freunde belagert, denen er nichts davon erzählt hatte. Doch er war stark geblieben, vermied es, seine sicheren vier Wände zu verlassen und bat die Blondine meistens, mithilfe der Ausrede über zu viel Arbeit, für ihn Essen zu besorgen oder wagte es, etwas zu bestellen. Obwohl er nicht einmal ein Bild von ihm sehen, geschweige denn seine Stimme vernehmen wollte, schaute er jeden Tag aufs Neue nach. Suchte nach einem neuen Video, in der Hoffnung, es würde nicht die Aufnahmen dieses einen Momentes zeigen.

Solange er die Situation noch nicht endgültig erfasst hatte, sollte es niemand sehen dürfen. Niemand sollte von diesem Kuss wissen, der alles andere als keuch und unschuldig war. Und schon gar nicht zeugte er von einem einfachen Streich und einem belustigten, kurzen Austausch zwischen zwei besten Freunden, der letztlich nichts bedeutete. Niemand sollte ihm sagen, bestätigen, was er tief in sich drin schon wusste, was er seit einiger Zeit verschlossen mit sich herum trug. Begleitet von einer Angst, die ihn förmlich lähmte.

Eigentlich sollte es nicht so sein. Eigentlich durfte er ihm nicht böse sein, geschweige denn ihn dafür bestrafen. Er hatte es selbst schon gesagt, es war alles verdammt gut vorbereitet und auch wenn er dem gegenüber skeptisch eingestellt war, hatte er ihn doch irgendwie überzeugt. In der Sekunde, in der sein bester Freund die letzte Grenze zwischen ihnen überschritten hatte. In der Sekunde, in der er ihre Lippen miteinander vereint hatte, hatte er nicht mehr daran gedacht, dass er nur eine Vorstellung von seinen Schauspielkünsten bekam, die er ihm nie zugetraut hätte. Letztlich war er selbst Schuld.

Keine Regeln. Das hatten sie sich und den Zuschauern versprochen. Sie hatten sich gegenseitig in eine Sache manövriert, die sie nicht mehr händeln konnten und während Simon bei jedem Schritt, den er gesetzt hatte, Bedenken hatte, die ihn davon abhalten wollten. Während er sich dabei kaum noch wohl gefühlt hatte, hatte Rob offensichtlich keine Skrupel mehr gehabt. Vielleicht war er nur gut darin, diese zu übergehen und es einfach zu machen, statt zu zögern. Am Ende kam es jedoch zu dem gleichen Ergebnis, das ihm nicht gefiel.

Es war ein leises Quietschen, das die Ruhe wie ein Messer durchschnitt und ihn erschrocken zusammenzucken ließ. Es war ein Knacken, das einfach nicht mehr aufhören wollte und ihn dazu bewegte, sich aus den Fängen seiner Decke zu befreien und sein kuscheliges Bett hinter sich zu lassen, das vor allem in letzter Zeit sein bester Freund geworden war.

Vorsichtig tapste er aus seinem Zimmer, darauf bedacht, keine Geräusche zu machen, die auf ihn aufmerksam machen konnten. Derweil rauschte das brodelnde Blut in seinen Ohren, hinderte ihn daran, sich auf weitere Anhaltspunkte zu konzentrieren und linderte nicht im geringsten das Chaos aus Fragen, die ihm durch den Kopf schwirrten. Er schwankte sogar leicht von der Fülle seiner Gedanken und krallte sich am Geländer der Treppe fest.

Mynoupa hatte neben seinem Mitbewohner als einziger einen Schlüssel zu dieser Wohnung. Er sollte jederzeit hier rein kommen können, falls die Kommunikation zwischen ihnen zu kurz kam und Simon gerade nicht vor Ort war. Gleichzeitig diente es als Absicherung, falls er sich doch mal ausschließen sollte und dementsprechend einen Ersatz brauchte. Aber der sollte nach eigenen Aussagen gar nicht in der Stadt und vor allem beschäftigt mit irgendwelchen Hausaufgaben sein, die ihm den letzten Nerv raubten. Dass er sich dagegen entschieden und zu ihm gefahren sein soll, war sehr unwahrscheinlich und auch Smiley war für mehrere Tage ausgeflogen.

Keine Regeln - Sährob/Team BrillWo Geschichten leben. Entdecke jetzt