Ohne Worte

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Erschöpft setzte sie einen Fuß vor den anderen. Es waren nur noch wenige Schritte bis zu ihrem Ziel. Die lang ersehnte Bank. Die Sterne, die diese Nacht besonders hell schienen, leuchteten ihr den Weg durch das Gestrüpp. Fast jede Nacht machte sie sich auf den Weg auf den Berg, von dem man die ganze Stadt bestaunen konnte. Doch diese Nacht sollte anders werden. Der Anblick gab ihr immer ein Gefühl von Ruhe und Geborgenheit. Kurz bevor ihr Ziel in ihr Blickfeld kam, lies sie ihren Blick über die vielen Lichter schweifen. Auch nachts war nicht zu übersehen wie viele Menschen es in der Stadt gab. Viel zu viele. Sie alle gingen ihren eigenen Weg und schienen nur auf sich zu achten. Nie gab es einen Blick nach links oder rechts. Weder in der Straßenbahn am frühen Morgen, noch auf dem Nachhauseweg durch die Innenstadt. Jeder lebte vor sich hin. Um so mehr liebte sie die ohrenbetäubende Stille auf dem Berg, die einem gar keine andere Wahl ließ, als die Gedanken schweifen zu lassen. Gedanken über das Leben. Über die Einsamkeit, die sie seit Jahren versuchte zu ersticken und kläglich scheiterte. Obwohl der Berg der einzige Ort war, wo sie immer alleine war, lies er sie niemals einsam fühlen.
Die Natur war stets bei ihrer Seite. Heute war ein besonders schöner Tag gewesen. Sie hatte den tollen Sonnenuntergang beobachten dürfen, der die Bäume in orangen Tönen erscheinen ließ. Und als es dann stockdunkel wurde, machte sie sich auf den Weg, um ihren Kopf frei zu kriegen. Wie immer. Der Anblick, den sie dann erwartete, lies sie kurz stutzen. Ein Junge hatte sich auf ihrer Bank niedergelassen. Sie hatte an keinem der unzähligen Tage, die sie hier verbracht hat, je eine Menschenseele gesehen. Er lies sie jedoch nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Wortlos setzte sie sich neben ihn. Sie fing an zu frieren. Es war kalt. Zitternd zog sie ihre Beine an ihren Körper und versuchte sich zu wärmen. Ohne ein Geräusch von sich zu geben, zog der Junge seine Jacke aus, um sie ihr geben zu können. In der Stadt wäre das nie passiert, dachte sie. Beide bestaunten die Lichter der Stadt, die immer dunkler wurden. Langsam gingen alle schlafen. Alle außer zwei. Das Mädchen und der Junge fühlten sich in ihrer Einsamkeit zu zweit verstanden. Von einander. Sie teilten ihre Gedanken. Und das alles ganz ohne Worte.

15.11.18

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