Sein Brief

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Der reißende Fluss neben ihrem Haus war eigentlich schwer zu überqueren. Die einzigen beiden Wege, die über das Wasser führten, waren die eine Straße, auf der fast immer Stau war, oder ein kleiner Fußweg, der aber von den meisten nicht gefunden wurde, weil er so abgelegen war. Und dann gab es da noch einen dritten Weg. Sie hatte ihn erst vor Kurzem entdeckt und konnte seitdem dank der Bäume, die wie für das rüberklettern gemacht waren, trocken auf der anderen Seite ankommen. Viele Jahre hatte sie nie einen Sinn gesehen, auf die andere Seite gehen zu wollen. Ich meine alles, was es drüben gab, gab es doch auch bei uns, hatte sie immer gedacht. Doch vor einem Jahr, kam wie aus dem nichts dieser eine Grund, der ihr Leben auf den Kopf stellte. Auf einmal gab es ihn. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag machte sie sich auf den Weg, um ihn sehen zu können. Die Dunkelheit drückte sich durch die Straßen und lies das Leben so unbeschwert aussehen. Doch sie kannte das Leben. Sie wusste es besser. Die vollkommene Stille wurde nur durch das Knacken der Äste unterbrochen, als sie endlich auf der anderen Seite ankam. Die Sonnenblumen, die den Weg zu dem abgelegenen Haus fast verschluckten, ließen trostlos ihre Köpfe hängen. Sie fühlte sich von ihnen verstanden. So verstanden, wie sonst nur von ihm. Er verstand sie immer. Er hatte ihre Reaktion auf die schlimmste Nachricht ihres Lebens nachvollziehen können. Sie war einfach nur zusammengebrochen und konnte nichts sagen. Die Nachricht, die er ihr überbringen musste, handelte von seinem Leben. Oder besser gesagt, was davon übrig bleiben würde. Er hatte ihr immer versprochen einen Abschiedsbrief zu schreiben, wenn es so weit sein sollte. Er versuchte sie zu trösten. Es war zwecklos. Sie würde nie getröstet werden können. 
Endlich hatte sie es zu dem kleinsten Haus der ganzen Straße geschafft und klopfte ungeduldig. Seitdem sie sich kennen, gab es keinen Abend, den sie nicht zusammen verbracht hatten. Die Umarmungen, die sie sich gegenseitig gaben, zeigten ihnen, dass sie nicht vergessen werden würden. Auch diese Nacht lagen sie eng umschlungen im Bett. Sie hatte sich noch nie so wohl gefühlt. Die Umarmung in dieser Nacht schien noch enger als sonst zu sein. Plötzlich wurde es kalt um sie. Er hatte die Decke angehoben. Er musste nur etwas holen, sagte er ihr. „Ich liebe dich" waren die letzten Worte, die sie hörte, bevor er die Tür hinter sich schloss. Lange Zeit lag sie einfach nur da, eingehüllt von seinem Geruch, den sie so sehr liebte. Erst nach einer ganzen Weile fiel ihr Blick auf einen kleinen, weißen Gegenstand, der sorgfältig auf dem Tisch platziert war. Er lag fast zu perfekt da. Sie hatte sich immer vor diesem Augenblick gefürchtet. Sie wollte nie die Bestätigung ihrer schlimmsten Albträume in ihren Händen halten. Sie wollte nie in seiner Handschrift lesen, dass er jetzt an einem besseren Ort war. Dieser Gegenstand war der Grund für die vollkommene Zerstörung ihres Lebens. Der Brief war der Grund dafür.
Sein Brief.

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