Kapitel 4

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Lily schaute mich verwirrt an.
Ich konnte spüren, dass sie mir mein Entsetzen ansah und sich fragte, was nun in mir vorging.
Doch wie sollte ich ihr erklären, was los war, wenn ich es noch nicht einmal selber verstand?
Ich schüttelte den Kopf und versuchte aufzustehen. Doch schon wieder begann sich alles zu drehen.
Ich schaute zu Lily.
‚‚Lily, würdest du mir die Wasserflasche, die neben dem Herd steht, geben?'', bat ich sie.
Sie stand auf, holte sie und gab sie mir.
Noch immer besorgt schaute sie mich an.
Ich konnte regelrecht sehen, wie es in ihrem Kopf arbeitete und sie versuchte, festzustellen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass sie mich zu einem Arzt bringen konnte. Doch ich war schon immer diejenige von uns beiden gewesen, die so gut es geht, Arztbesuche meidete. Wohingegen sie diejenige war, die lieber zu oft als zu selten zum Arzt ging.
Ich konnte sie nicht verstehen, so wie sie mich vermutlich nicht verstehen konnte.

Ich öffnete die Flasche und nahm einen großen Schluck.
Ich sah Lily an, dass sie sich um mich sorgte.
Und dass sie wissen wollte, was passiert war.
Aber wenn ich ihr die Wahrheit erzählen würde, würde sie mich für verrückt erklären. Sie würde mir nicht glauben, weil sie es nicht verstehen konnte. Alles, egal wie klein es war, alles, was auch nur in einem kleinen Teil etwas nicht normales, ja etwas übernatürliches, enthielt, hielt sie für Schwachsinn und riss Witze darüber. Sie hielt mich für paranoid und glaubte nicht an solche Dinge.
Aber mir war das egal.
Ich erzählte ihr oftmals trotzdem von diesen Dingen.
Einfach weil sie meine beste Freundin war, und das auch immer sein wird.
Abgesehen von diesem Nicht-Glauben an übernatürliche Dinge, war sie einer der nettesten, einfühlsamsten und verständnisvollsten Menschen, die jemals existiert haben.
Und deshalb verstand ich mich so gut mit ihr...
Ich wusste zwar nicht, was sie in mir sah, aber vermutlich war es einfach Schicksal, dass wir uns damals in der zweiten Klasse über den Weg gelaufen sind. 

Wir waren damals nicht auf derselben Schule. Geschweige denn waren wir Nachbarn. Ja, wir lebten noch nicht mal im gleichen Stadtteil.
Es war an einem wunderschönen, nicht allzu warmen Sommertag.
Meine Mutter war mal wieder der Meinung gewesen, dass ich unbedingt raus musste. Etwas Zeit an der frischen Luft verbringen.
Dabei war ich schon immer der Typ Mensch gewesen, der bei egal welchem Wetter, da konnte es noch so schön sein, lieber drinnen saß und malte, laß oder sich sonst irgendwie beschäftigte. Ich war einfach lieber alleine. Ein Einzelgänger.
Doch meine Mutter hatte niemals die Hoffnung aufgegeben, dass sich das vielleicht noch etwas verändern könnte.
Und eventuell hatte sie ja recht gehabt.

An jenem Tag also, hatte sie mich nach dem Mittagessen an die Hand genommen und mich aufgefordert, mit ihr einen kleinen Spaziergang zu machen.
Ich weiß nicht mehr, womit sie mich überredet bekommen hat. Vermutlich hatte sie mir ein Eis versprochen, denn ich liebte es. Schon immer.
Wir verließen das Haus. Doch sobald wir nur ein kleines Stückchen gegangen waren blieb ich stehen. Ich wollte nicht mehr weiter.
Irgendetwas in mir sträubte sich und sagte mir ich solle zurückgehen.
Meine Mutter nahm ich an die Hand und versuchte auf mich einzureden und mich zu überzeugen, weiter zu gehen.
Ich ließ die Hand los. War doch kein kleines Kind mehr.
Und ich kämpfte mit mir selbst. Ich hatte meine Mutter schon sooft enttäuscht. Da konnte ich doch heute ihr auch eine Freude machen. Nicht auf mein Gefühl hören und mit ihr einen Spaziergang machen.
Wir liefen weiter.
Im Park angekommen forderte sie mich auf, etwas auf dem Spielplatz zu spielen.
Lustlos hockte ich mich ihr zu liebe auf die Schaukel, schaukelte langsam vor mich hin und gab vor Spaß zu haben. Nur um sie glücklich zu machen. Sie mal wieder lächeln zu sehn.
Sie lächelte einfach zu selten. Wahrscheinlich vermisste sie Dad.
Ich hing meinen Gedanken nach, als plötzlich Lily neben mir auftauchte.
Ich bemerkte sie erst gar nicht, bis sie mit den Fingern vor meinem Gesicht schnipste.
Ich erschreckte mich damals so sehr, dass ich ich von der Schaukel gefallen war.
Sie fand das damals lustig, ich im ersten Moment nicht, bin aber kurz danach in ihr Lachen eingefallen.
Lilys lachen war einfach so ansteckend...
Nach dem wir uns beide von unserem Lachanfall erholt hatten, unterhielten wir uns und spielten den ganzen Tag. Abends tauschten wir unsere Telefonnummern aus, sodass wir auch in Zukunft Kontakt halten konnten.
Nach den Sommerferien wechselte sie zu mir an die Schule und kam zu mir in die Klasse.
Wie der Zufall es so wollte, sind ihre Eltern mit ihr nur ein paar Häuser weiter eingezogen.

„Hallooo? Erde an Lindsay? Bist du noch bei mir?"
Sie schnippte mit ihrem Finger vor meinem Gesicht, ich musste grinsen. Es hatte sich kein bisschen verändert. Klar, wir waren älter geworden, aber wir verstanden uns auch jetzt genauso gut wie damals.
Und sie reagierte auf die gleiche Art und Weise wie damals, sobald ich mal wieder in meine Tagträume verfiel.

Ich öffnete wieder meine Augen und schaute sie beruhigend an.
In ihren Augen sah man noch immer ihre Besorgnis, aber um ihren Mund zeichnete sich ein kleines Lächeln ab.
Sie wusste genau, woran ich so eben gedacht hatte...

„Du hast mir immer noch nicht erzählt was passiert war", wechselte sie gekonnt das Thema.
Sie war schon immer ein neugieriger Mensch gewesen, aber in dem Fall konnte ich ihr nicht die Wahrheit erzählen.

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