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Meine Hand legte sich auf die kalte Scheibe des Fensters, das mich hinaus auf die eisige, vorbeirauschende Welt blicken ließ. Leise tanzte der Schnee aus den Wolken über uns und ließ nicht erahnen, wie giftig er doch war. Reines, kaltes Gift, dass sich in deine Haut fraß, als wäre es ganz normal. Dass Schnee normalerweise nicht giftig war, wusste ich nur aus Büchern. Meinen geliebten Büchern.

Seit ich denken konnte, war es selbstverständlich, dass man bei Schnee die Fenster und Türen fest geschlossen hielt und wartete, bis das weiße Wunder verschwunden war. Warum ich Schnee trotz des Giftes Wunder nannte? Nun, es war nicht selbstverständlich, dass es überhaupt möglich war, dass Schnee fiel.

Die Menschen waren schuld. Wir waren schuld. Mit unserer ewigen ignoranten Verschmutzung, die den Klimawandel immer mehr voran trieb, mit der Rodung der Wälder und dem sinnlosen Verschleudern von Energie. Wir brachten tausende Tiere zum Aussterben, nur damit es für das egoistische Wesen Mensch mehr Platz gab. Wir sahen tatenlos zu, wie der Wasserspiegel immer weiter Anstieg, wie die Polkappen durch die steigenden Temperaturen fast vollständig schmolzen. Das alles nur für uns. Das alles für die Rasse Mensch.

Doch wir zogen die Notbremse, sonst wäre ich nun nicht hier und könnte meine Geschichte erzählen, sonst wäre unsere Welt zerstört und zerbrochen und auf keinen Fall mehr von irgendwem zu bewohnen.

Wir hatten es geschafft, wir hatten uns wieder auf das richtige Gleis bewegt, doch nur mit einem Tropfen, konnten wir das Klima wieder aus dem Gleichgewicht bringen. Auf meinem Vater lag die Last es nicht mehr soweit kommen zu lassen. Mein Vater war Herrscher unseres Landes. Unseres Landes Marmoria. Das dieses nicht zerbrach, war alleine sein Verdienst. Er war ein Held für so viele. Für uns alle. Das sollte er jedenfalls sein, denn er tat alles dafür... Auch seine Tochter vernachlässigen...

„Harmonia!", überrascht zog ich die Hand von der Scheibe weg und blickte mich um, wer mich gerade angesprochen hatte. Ich hatte schon wieder geträumt das musste aufhören. Es gehörte zu meinen Pflichten aufmerksam und gefasst zu sein, das war jedoch nur selten der Fall. Ich war in Gedanken versunken und zerstreut.
"Entschuldige, was hattest du gesagt?", murmelte ich leise und entschuldigend zu meinem Kindermädchen, wenn man Odette so nennen wollte. Sie war mein Ein und Alles.
Odette schüttelte den Kopf und ihr langer schwarzer Zopf wippte hin und her. "Du weißt, dass du voll und ganz bei der Sache sein musst, wenn du jemals wieder mit deinem Vater mitreißen willst", tadelte sie mich streng. Ich ließ den Kopf sinken, ich konnte doch nichts dafür, dass ich eine Träumerin war. Es gehörte einfach zu mir.
Doch sie hatte recht, ich wollte die Welt sehen, den Palastmauern entfliehen und jetzt war es mir endlich möglich. Bis zu meinem fünfzehnten Geburtstag war ich in den engen, bedrängenden, aber sicheren Palastmauern eingesperrt, da mein Vater es noch zu unsicher da draußen für mich hielt. Er hatte auch Recht gehabt.
Aber jetzt war ich endlich fünfzehn und mein Vater nahm mich mit.
So konnten wir verlorene Zeit aufhole. So hatte ich es mir jedenfalls damals gedacht.
Mein Vater war nämlich immer auf Reisen, um Krisen zu lösen oder Reden zu halten, da sah ich ihn kaum. Ich reiste nun aber nicht nur zum Spaß mit, ich unterstützte ihn bei den Reden und hielt selber welche. Es war meine Aufgabe dem Volk etwas zu geben und den Zusammenhalt zu wahren. Den Frieden.
Nun waren wir auf dem Weg zur Hauptstadt. Marlis war die größte Stadt im ganzen Land. Millionen von Menschen lebten dort. Jede Schicht, fand dort Unterschlupf, ob arm, reich oder Mittelschicht.
Zugleich freute ich mich, so viele Menschen zu sehen, aber doch fürchtete ich mich sehr. Ich hatte noch nie mit so vielen Menschen in Kontakt gestanden. Ich war immer alleine mit Odette gewesen und natürlich den Lehrern und Angestellten im Schloss, aber mit so wenigen Menschen konnte man keine richtige Beziehung aufbauen, noch dazu waren sie alle sehr distanziert mir gegenüber, nur Odette war je für mich da gewesen.
"Ich werde mich zusammenreißen, Odette. Wann sind wir denn da?", sagte ich zur Beruhigung zu Odette. Ihre Gesichtszüge entspannten sich ein wenig und gleich erkannte man wieder, dass sie eigentlich doch noch reichlich jung war.
"In einer halben Stunde und du musst dich noch fertig machen.", stellte sie schockiert fest und da war wieder ihr ernstes, älteres Gesicht.
"Wieso? In den anderen Städten war es doch auch egal, wie ich aus dem Zug ausstieg", meinte ich verwirrt.
Odette seufzte: "Darf ich dich daran erinnern, dass das unsere Hauptstadt ist? Hunderte von Menschen werden auf deine Ankunft warten."
Oh Gott, hunderte von Menschen? So viele hatte ich noch nie auf einmal gesehen und vor ihnen sollte ich eine Rede halten. Vor allen und im Fernsehen, das gerade wieder eingeführt wurde. Es war jahrelang lahmgelegt wegen des Strommangels.
Sofort wurden meine Hände schwitzig und mir wurde ganz heiß.
"Komm schon Harmonia, nur noch eine halbe Stunde.", sie tippte auf ihre Uhr und bedeutete mir ihr zu folgen. Odette hielt sich gerne an strukturierte Pläne, aber das war gut, das war ihr Job. Manchmal vergas ich, dass sie hier für bezahlt wurde.
In der Zeit, in der Odette mich schminkte, hatte ich etwas Zeit nach zu denken.
Ich ratterte zu meinem eigenen Verständnis noch einmal alles wichtige herunter: Erstens, ich reise mit meinem Vater durchs Land, sehe ihn aber nur bei den Reden und wichtigen Essen. Zweitens, mein Kindermädchen darf mit mir als Managerin mitkommen. Ich wäre garantiert auch nicht ohne Odette gefahren. Drittens, ich darf gleich vor hunderten Menschen eine Rede halten.
Was danach kam hatte mir niemand erzählt. Ich sollte froh über dieses Leben sein, viele hatten es schlechter, aber das war ich nicht wirklich. Ich vermisste die Nähe von Familie.
Schließlich war Odette fertig. Sie hatte meine hellen, blonden Haare elegant hochgesteckt und ein paar Strähnen außen vor gelassen, dass es nicht zu streng wirkte. Meine grünen Augen waren passend zu meinem Kleid, in hellem orange und rot geschminkt, meine hellen, vollen Lippen hatten durch ein wenig Lipgloss ein wenig Farbe bekommen, meine kleine Nase und meine eher runden Gesichtszüge ließen mich so jung wie immer wirken.
"Lächeln nicht vergessen", erinnerte mich Odette. Ich nickte gefasst.

Der Zug wurde langsamer und blieb schließlich stehen. Oh Gott, jetzt kam mein Ausstieg aus dem Zug und nach der Rede meines Vaters, wahrscheinlich meine. Ich wurde von einer ganzen Flut an schlechten Gedanken überschwemmt.
Wir gingen zum Ausgang des Zuges. Ich zitterte am ganzen Leib und meine Hände waren so schwitzig, dass ich sie andauernd an meinem Kleid abwischte. Es war oben in hellem orange und ging über dunklem rot, es ging mir ungefähr bis zu den Knien, war Schulterlang und betonte an der Taille meine schmale, zierliche Figur, das war jedoch nicht das Problem, das Kleid war aus Tüll und so brachte mir das abwischen meiner Hände rein gar nichts.
Odette sagte aufmunternde letzte Worte: "Du schaffst das schon. Lies einfach den Text, der dir vorgegeben wurde vor und alles wird gut."
Es wurde mir wirklich ein Text vorgegeben, doch warum machte sie sich so sorgen, dass ich ihn nicht wie vorgelegt vorlesen würde? Etwas anderes würde ich doch wohl kaum bei all dem Trubel hinbekommen.
"Wieso, denkst du ich würde es nicht tun?", fragte ich sie ganz einfach.
"Ich denke doch nicht, dass du ihn nicht vorlesen würdest, doch manchmal schweifen deine Gedanken ab und du vergisst, was du eigentlich hättest sagen sollen. Bei so einer großen Stadt könnte das schwere Folgen haben. Viel Glück", sie gab mir einen kleinen Schubs, als die Türen aufschwangen.

Gezüchtet - Die Offenbarung #Wattys2015Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt