Die Familie Lamour (Prolog)

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1. Die Familie Lamour

Tagebucheintrag vom 18. Juli 1971: Ich hasse, hasse, hasse ihn! Er behandelt mich wie ein Tier, dass sich hinter dem Ofen versteckt und sich mit Steinen abwerfen lässt! Meine Mutter ist schwach, meine Geschwister sind schwach und ich bin es sowieso!

Es war Mitte Juli und ein heißer Sommertag neigte sich Langsam dem Ende. Die Sonne, welche den ganzen Tag hell gelb vom Himmel gebrannt hatte, erstrahlte nun in den Farben Orange, Rot und Lila und färbte die kleinen Wolkenfetzen ein, die über den Himmel zogen. Lucie Lamour beobachtete das Schauspiel. Das Mädchen saß in einem Apfelbaum, der sich mehrere Meter über den Garten des Hauses erstreckte, in dem sie lebte und ihr gold-blondes Haar wehte im warmen Wind. Genüsslich schloss sie ihre Bernsteinfarbenden Augen und mit einem Lächeln streckte sie ihre Arme in die Luft. Sie kletterte oft auf diesen Baum, meistens bis auf den höchsten Ast, denn hier oben schien alles auf einmal harmloser und ungefährlicher. Die Rou Tiron, in der Lucie und ihre Familie lebte, war wie ausgestorben. Es war eine einfache Gegend am Rande von Paris und die Häuser, die sich hier erstreckten, sahen alle gleich langweilig aus, dass fand die Elfjährige zumindest. Ihr Vater mochte es, einer der wenigen Dinge, die er mochte, denn hier wirkten sie alle ganz und gar normal und so lange Lucie nicht wieder irgendetwas anstellte, stellte auch niemand Fragen.
„Lucie, wie kommst du da rauf?", eine Helle Jungenstimme vom Fuße des Baumes lies Lucie aufhorchen und die Blonde sah nach unten, wobei sie sich so weit nach vorne lehnte, dass nicht mehr viel fehlte und sie wäre vom Ast gerutscht. Ihr Jüngerer Bruder Jules stand dort und schaute sie erstaunt an. Seine Braunen Haare glänzten im Schein der Abendsonne. Lucie grinste breit, während sich die Augen ihres Bruders auf einmal weiteten. „Lou, lass das!" Doch es war schon zu spät, die Blondhaarige hatte sich von ihrem Ast abgestoßen und sprang den hohen Apfelbaum hinunter.
Ihr Grinsen wurde noch breiter während sie langsam zu Boden glitt und ihre Arme ausbreitete. Sie liebte dieses Gefühl, es fühlte sich an, als würde sie fliegen und letztendlich landete sie leichtfüßig im Gras. „Beruhig dich Jules", sagte Lucie liebevoll und sie knuffte ihm in die Seite. „Es ist ja nichts passiert." Ihr kleiner Bruder biss sich auf seiner Unterlippe rum. „Du hast es wieder gemacht.", sagte er beinahe flüsternd, es klang dabei fast so, als würde er Angst vor ihr haben. „Papa sagt, du sollst das nicht machen." Lucies Augenbrauen zogen sich leicht zusammen und sie verschränkte die Arme vor der Brust. Sie fragte sich, wann ihr Bruder endlich einsah, dass ihr Vater nicht mit allem recht hatte. „Seit wann tue ich, was Papa sagt?", fragte sie schließlich eindringlich und schaute ihrem kleinen Bruder in die dunklen Augen. „Wenn du petzt, gebe ich dir keinen Apfel ab." Jules blickte auf die gelbe Tasche, die seine ältere Schwester um die Schulter trug und aus der die Schönsten Äpfel ragten, die dieser Baum getragen hatte. „Das ist gemein!", schrie er schließlich und rannte schnell ins Haus. Lucie bereute ihre Worte Sofort und ein deutliches Seufzen war zu hören. Sie konnte doch gar nichts dafür. Lucie und ihre Mutter Luna waren eben anders als Jules, Lucies ältere Schwester Jade und ihr Vater Lucas. Sie konnten Dinge tun. Gegenstände bewegen, ohne sie zu berühren, von einem Baum springen, ohne sich den Hals zu brechen! Sie hatte sich sicher nicht ausgesucht, die einzige zu sein, die anders war, aber sie wusste auch nicht, was daran so schlimm war.
Lucie folgte ihrem Bruder schließlich deutlich langsamer ins Haus, denn sie hatte es ganz und gar nicht Eilig. Ihr blau geblümtes Kleid schlug ihr um die Knie, welche, wie so oft, aufgeschlagen waren. Lucie war oft weg von zuhause, kämpfte sich durch das wildeste Dickicht, um an geheimnisvolle und entfernte Orte zu gelangen und dabei war es ihr egal, ob ihr die Nesseln die Haut verbrannten und die Dornen ihr Kleid zerrissen.
„Lucie, wo warst du schon wieder?" Im Wohnzimmer standen ihre Mutter und ihr Vater, sie sahen ihre Tochter an, wobei Luna eher ängstlich wirkte. Lucie sah beinahe genauso aus wie sie, beide hatten Gelbblondes Haar, welches ein eher längliches Gesicht umschmeichelte und die hohen Wangenknochen verdeckten, außerdem blitzten Bernsteinfarbende Augen unter ihnen hervor. Luna war sehr dünn und ihre Haut zeigten Blessuren, die sie um jeden Preis versuchte, mit ihren Armen und Händen zu verstecken.
Jules war gleich zu ihrem Vater gestürmt und schrie: „Papa, sie hat es wieder gemacht! Sie hat gezaubert!" Seine Stimme zitterte leicht und Lucas starrte sein Mittleres Kind an. Ihr Vater hatte eine vollkommen andere Erscheinung als die Schüchterne Luna. Sein Gesicht war kantig und der Ausdruck schroff. Seine Augen waren dunkel, fast Schwarz und seine Hände groß und kräftig. Jules und Jade kamen eher nach ihm. Inzwischen war Jade auch schon die Treppe hinunter gestürmt, ihre braunen Langen Haare lagen über dem Geländer und sie schaute rüber zu ihrer kleineren Schwester.
Lucie wiederrum betrachtete sorgenvoll wie ihr Vater den Raum durchquerte und auf die zulief. Sein Gesicht hatte ein fleckiges rot bekommen und Lucie konnte seine Alkoholfahne riechen. „Du hast es wieder getan, du Missgeburt!", Brüllte er sie an. Angstvoll richtete sie den Blick auf seine Hände und sah, wie die Haut sich um die Knöchel spannte als er sie zu einer Faust schloss. Lucie kniff schnell die Augen zusammen und wartete auf den Schlag, welcher schneller kam als sie hätte stopp sagen können. Seine geballte Faust traf das Gesicht des Mädchens und die Wucht schleuderte ihren Kopf zur Seite, sofort konnte sie ihr eigenes Blut im Mund schmecken. „Ich – habe – dir – schon – tausend – mal – gesagt: DU SOLLST DAS NICHT TUN!" Mit jedem Wort bekam das Mädchen einen Schlag ab und auch wenn diese Schläge nicht halb so heftig waren, wie der erste, wurde ihre Wange knallrot und Tränen flossen an ihnen hinunter. Sie stolperte zurück und fiel auf den Boden, ihre Augen öffnete sie nicht. Sie sah ihn oft in ihren Träumen, er war eine Horrorgestalt mit dem Maul eines Wolfes. Lucie fürchtete sich vor ihm.
„Lass es! Bitte..." Lunas Stimme war nichts weiter als ein Hauch und sie ging einen unsicheren Schritt nach vorne. Lucie traute sich wieder die Augen zu öffnen und sah nach oben zu den beiden. „Halt dich da raus!", knurrte Lucas, doch Luna schien nicht reagieren zu wollen und streckte ihre Hand aus, um sie auf den Arm ihres Mannes zu legen. Lucas drehte sich ein wenig zu ihr und hob drohend die Faust, weshalb Lucies Mutter die Hand schließlich doch sinken ließ und vor Scham, verbarg sie ihr Gesicht.
Lucie starrte mit tränenden Augen zu ihnen. Sie empfand für beide einen tiefen Hass. Für ihren Vater, weil sie sich vor ihm mehr fürchtete, als vor allem anderen und für ihre Mutter, da diese schwach war. Lucie verstand einfach nicht, warum sie immer noch mit diesem Mann zusammenlebte. Sie sollte mutig sein, für ihre Kinder, und fort gehen. Aber Lucie wusste, sie würde es nie tun, sie würde Lucas nie verlassen und darum hasste sie sie beide.
Lucas wollte sich gerade wieder seiner Tochter widmen und drehte sich zu ihr. Lucie hatte die Hände schützend über ihren Kopf gelegt, aber bevor etwas geschehen konnte hörte Lucie ein Flügelschlagen und plötzlich flog eine große Schleiereule durch die offene Terassentür. Sie landete genau vor dem Blonden Mädchen auf dem Boden und sie starrte das Tier ungläubig an. Erstaunt rieb sie ihre verheulten Augen. „Luna, was macht der Vogel hier?!", brüllte Lucas bebend vor Wut, als hätte sie Schuld an dessen Anwesenheit.
Doch Luna antwortete nicht und starrte nur die Eule an. Sie lies einen Brief fallen und flog wieder davon. Lucie war sich nicht ganz sicher, was sie jetzt tun sollte und auch der Rest ihrer Familie schien ratlos drumherum zu stehen. „Li- lies ihn.", sagte Luna plötzlich leise und Lucie streckte langsam ihre Hand nach dem Brief aus. Er war schwer, das Papier war viel dicker als sie es gewohnt war, und auf der Rückseite stand mit schwarzer Tinte geschrieben:

Mademoiselle L. Lamour
Zimmer auf dem Dachboden
Rue Tiron Nr. 36
Banlieue
Paris

Lucie war sehr verwirrt und schaute noch einmal zu ihrer Mutter, aber ein schwaches Lächeln auf ihrem Gesicht deutete an, dass sie froh über den Brief zu sein schien. Alle starrten das Mädchen angespannt an, während sie ihn umdrehte und das Siegel brach. Es war ein geschnörkeltes B gewesen, eingepresst in Blauem Wachs. Langsam zog Lucie den Brief aus dem Umschlag und las ihn leise durch, wobei ihr Mund nach unten klappte.

BEAUXBATON-AKADEMIE FÜR ZAUBEREI

Schulleiter: Monsieur Jardin

Sehr geehrte Mademoiselle Lamour,
Wie freuen uns, ihnen mitteilen zu könne, dass Sie an der Beauxbaton-Akademie für Zauberei aufgenommen sind. Beigelegt finden sie eine Liste aller benötigten Bücher und Ausrüstungsgegenstände.
Das Schuljahr beginnt am 1. September. Wir erwarten ihre Eule spätestens am 31. Juli.

Mit freundlichen Grüßen,

Madame Maxime
Stellvertretende Schulleiterin

Die blonde brauchte einen Moment, um das Ganze zu verstehen, doch dann realisierte sie, dass es noch mehr Menschen gab, die so waren wie sie und ihre Mutter. Die Tränen trockneten langsam und das Mädchen wusste endlich, dass es einen Ort gab, an dem sie hingehörte. Sie war sich nur noch nicht sicher, ob ihr Vater sie gehen lassen würde. Schließlich würde sie dort lernen, ihre Kräfte zu benutzen, aber Lucie würde alles tun, um da hin zu dürfen, sie würde alles tun, nur um von zuhause weg zu kommen. Sie war eine Hexe.

Süße LügenWhere stories live. Discover now