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Das Lachen von anderen Menschen schmerzt dann bekanntlich besonders, wenn man sich ausgegrenzt fühlt. Till konnte das bestätigen, als er sich schnellen Schrittes in die Küche begab und dabei unablässig von dem munteren Geplauder der anderen Schüler umfangen wurde. Das lebensfrohe Geräusch drang mit der Luft in Tills Lunge und brannte dort wie Chilipulver, schoss ihm tränend in die Augen und ließ ihn auf dem Absatz kehrtmachen. Der Appetit war ihm vergangen.

Seit Frieden an der Schule und im Internat eingekehrt war und Till in seiner selbstverschuldeten Einsamkeit versauerte, verliefen seine Tage alle gleich:
Schon vor dem Frühstück legte er ein Sondertraining ein, bei dem er so lange und so schnell rannte, bis er sich fast übergeben musste. Anschließend duschte er viel zu heiß und viel zu kalt im Wechsel. Später starrte er dann im Chemieunterricht so verdrießlich in die blau leuchtende Flamme des Bunsenbrenners, bis sich ihm unwillkürlich die Frage aufdrängte, wie es wohl wäre, sich an dieser Flamme zu verbrennen. In seine unruhigen Finger fuhr dann ein nervöses Zucken, das sich erst legte, wenn Till nachmittags so lange auf einen Sandsack einschlug, bis sich seine Finger wie gebrochen anfühlten.

Till wusste, er konnte Teil des großen Ganzen namens Internatsgemeinschaft werden, wenn er sich nur entschuldigte, aber das wollte er nicht. Er wollte wieder ein Glanzstück sein – aber das würde nicht passieren.
Niemals wieder.
Und der Zorn darüber, dass man ihn anscheinend nicht genügend liebte und bewunderte, um ihn weiterhin auf ein imaginäres Podest zu stellen, ließ ihn eines Nachmittags komplett ausrasten:

Er ist allein im Zimmer, als ihm die Sicherungen durchknallen. Er urplötzlich all seine Hefte und Bücher vom Tisch fegt, den Schreibtischstuhl brüllend umtritt und seine Federmappe mit voller Wucht gegen die Wand schmeißt. Der nicht mal zur Hälfte zugezogene Reißverschluss überlebt die Kollision nicht und der komplette Inhalt des Mäppchens verteilt sich klirrend auf dem Boden. Füller, Kugelschreiber, Tintenkiller, Textmarker, Büroklammern, Radiergummi, Bleistift – alles liegt kreuz und quer durcheinander. Über den reglosen Gegenständen tost Tills Atem abgehackt durch den Raum und trommelt wie wild gegen Fenster, Wände und die Tür. Vor seinem inneren Auge rasen Szenen aus längst vergangenen Tagen vorbei. Er hört das ohrenbetäubende Weinen seiner nervigen Halbgeschwister und die ungeduldigen Ermahnungen von Lutz, der Till lautstark für das Scheitern ihrer Familie verantwortlich macht. Er hört das grelle Schreien des Babys und das ewig müde Bitten seiner Mutter. Er soll doch bitte ein bisschen Rücksicht nehmen, Verständnis haben, geduldig sein. Immerhin ist es für sie alle schwierig. Aber sie können das schaffen. Es ist nur eine Frage des Willens und der Gewohnheit.

Till wollte sich aber nicht umgewöhnen. Seine Mutter hingegen schon. Sie wollte sich vor allem daran gewöhnen, ihn weniger zu lieben und zu loben und ihn im Zuge dessen auch immer weniger walten zu lassen, bis er schlussendlich gar nicht mehr walten durfte. Sie hat ihn seines Amtes enthoben. Ihm die Krone vom Kopf gerissen, obwohl sie ihn von klein auf hat glauben lassen, dass es sein natürliches Recht ist, zu herrschen. Till kann daraus nur einen Schluss ziehen. Nämlich, dass er weder gut noch liebenswert genug ist. Nicht als Sohn, nicht als Freund und auch nicht als Kapitän des Staffellaufteams.

Von blinder Wut getrieben tritt er wieder und wieder nach den nutzlos am Boden liegenden Stiften, die ihm vollkommen schutzlos ausgeliefert sind. Der Füller verliert seine Kappe, der Bleistift bricht entzwei. Die dämlichen Büroklammern sind zu flach und trotzen deshalb dem Profil seiner Schuhe. Es macht Till rasend. Ohne weiter darüber nachzudenken, bückt er sich nach einer der Klammer und biegt sie unbarmherzig gerade. Bringt sie aus der Form, macht sie zu Seinem. Sie muss nicht glauben, dass sie sein darf, wie sie ist, wenn er nicht für das geschätzt wird, was er ist.

Aber wer kann es der Welt verübeln? Er ist doch bloß ein Verlierer.

Der Gedanke bannt Tills gesamte Aufmerksamkeit auf das schlanke Metall. Seine Erinnerung lässt erneut das haarsträubende Gebrüll seiner kleinen Geschwister aufleben, die Flamme im Chemiesaal, das „problematisch" seiner Eltern, die eingetroffene Prognose von Martha, die zurechtweisenden Worte seiner Freunde, die Predigt von Herrn Hauser.

Till ist raus. Überall.

Er ist ein unausstehlicher Egomane, der sich lieber selbst von seinen Mitschülern fernhält, als ihnen den Triumph zu gönnen, ihn in die Wüste zu schicken. Denn das ist es doch, was sie insgeheim alle wollen. Und er, er ist auch noch so dämlich und vermisst seine Mutter und seine Freunde. Das Eingeständnis dreht ihm beinahe den Magen um. Im Kampf gegen die Übelkeit gräbt Till mit der Spitze der Büroklammer rote Furchen in seine makellose Haut. Die oberste Hautschicht hängt in hauchdünnen Fetzen. Unter den betroffenen Stellen an seinem linkem Unterarm sammelt sich Tills Wut kochend heiß. Er droht innerlich zu verbrennen und bevor er das zulässt, zieht er die Büroklammer lieber ein weiteres Mal über seinen Arm. Fester, tiefer, hilfreicher. Seine Wut drängt in roten Tröpfchen aus seiner Haut und wächst in Sekundenschnelle zu bedrohlich dicken Tropfen heran.

So war das nicht geplant.
Alles nicht.

Um ein Haar verschluckt sich Till an seinem stockenden Atem. Der Schock erwischt ihn eiskalt. Es ist, als habe man ihm einen Eimer Wasser über den Kopf gekippt. Trotzdem ist Till noch immer nicht bei Sinnen, sondern fühlt sich seelisch wie betäubt. Auf seinem Arm pulsieren die roten Striemen und lodert sein Blut. Es kommt ihm so vor, als würde er entgiften.

Kurzweilig studiert er die allmählich aushärtenden Bluttropfen auf seiner noch dezent sonnengebräunten Haut. Nebenbei senkt sich sein Puls und verlangsamt sich seine peitschende Atmung wieder. Seine tosenden Gedanken ebben ab. Sein Herz brennt nicht länger lichterloh; die Flamme konzentriert sich einzig und allein auf Tills Arm.

Das ist gut, denn es ist so viel erträglicher.

Wenn Till könnte, würde er seine Unzulänglichkeit einfach kurz und klein schneiden, aber das kann er leider nicht. Er ist er und er weiß nicht, wie er je liebenswert genug werden kann, damit Menschen nur seinetwegen bei ihm bleiben. Nicht, weil er das einzige Kind ist. Nicht, weil er gute Zeugnisse und Ehrenurkunden nach Hause bringt. Nicht, weil er sich zum Chef eines elitären Trios erklärt und auch nicht, weil er eine hervorragende Leistung auf dem Sportplatz abliefert. Von all dem abgesehen, ist er gar nichts. Erst recht nicht besonders...

Es ist traurig.
Das alles.
Er und diese Gefühle, die er niemals auch nur einer Menschenseele anvertrauen kann und die vom konstanten Brennen seines Armes in den Hintergrund gedrängt werden.

Mit deutlich ruhigeren Bewegungen liest Till den Inhalt seines Federmäppchens sowie all seine Hefte und Bücher wieder vom Boden auf, legt alles fein säuberlich auf seinen Schreibtisch zurück und kaut nebenbei auf seiner Unterlippe herum. Der Geschmack der Bluttropfen erobert dabei auch seine Mundhöhle. Die gerade gebogene Büroklammer faltet er wie ein Klappmesser zusammen, ehe er sie in seine rechte Hosentasche gleiten lässt. Dort liegt sie gut, ist zur Not immer für ihn da. Er ist nicht alleine.

Nachdem Till auch den Stuhl wieder vor seinem Schreibtisch in Position gebracht hat, atmet er hörbar tief durch und zieht behutsam den Ärmel seines Pullovers herunter. Furche für Furche verschwindet ebenso unter dem dunklen Stoff wie das Blut und die Wut. Es gibt nichts mehr zu sehen. Die Show ist vorbei. Tills großer Wutauftritt beendet.

Auf dem Flur wallen Stimmen und Schritte auf, dann öffnet sich die Zimmertüre und Till schaut demonstrativ weg, als Nick, Pit und Timo den Raum betreten. Kurzes Schweigen ertönt und Till, der so tut, als sei er damit beschäftigt, seinen Rucksack für morgen früh zu packen, hört, wie seine ehemals besten Freunde ihre Sporttaschen abstellen und Pit irgendeinen Gegenstand, vermutlich ein Teleskop, auf seinem Bett ablegt.

„Wir...gehen jetzt runter. Abendessen", sagt Nick dann in den viel zu stillen Raum hinein.

Till versteht auf Anhieb, dreht sich aber trotzdem nicht um. Der Stoff seines Pullovers kratzt rau über die frische Wunde an seinem Arm und sorgt so dafür, dass Till nicht vergisst, was für ein Verlierer er ist. Obendrein hält ihn sein Stolz an Ort und Stelle gefangen und versiegelt seine Lippen. Morgen vielleicht. Morgen schafft er es vielleicht, sich eine Entschuldigung abzuringen und dann zumindest wieder halbwegs Anschluss an seine Freunde zu finden. Heute kann er sich noch nicht dazu überwinden. Heute kann er nur still und heimlich in seinen Ärmel bluten und sich selbst hassen.

Hinter ihm wird die Zimmertüre zugezogen. Eine neue Wolke Chilipulver wird dabei aufgewirbelt, die Till sogleich in die Augen weht. Zum Glück hat er die Büroklammer noch. Er blutet nämlich lieber kontrolliert statt unkontrolliert zu weinen.

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Danke fürs Lesen!
Noch habe ich mich nicht entschieden, ob ich die Geschichte fortsetzen werde oder nicht. Es wird sich zeigen... Wenn's euch gefallen hat, lasst mir gerne einen Kommentar da ^^

(K)Einer von Ihnen [Schloss Einstein FF]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt