1. Aufgaben

424 14 13
                                    

Ich gehe den Kiesweg entlang. Es ist ein sonniger Nachmittag und die Steine knirschen unter meinen Schuhen, an denen sich bereits die Sohle löst. Zu meinem 15. Geburtstag in zwei Wochen werde ich das neue Paar bekommen, das ich mir so sehr wünsche. Ich bin gespannt, was meine diesjährige Aufgabe sein wird. Jedes Jahr, zu unserem Geburtstag, bekommen alle auf der Welt einen Brief, in dem jene Aufgabe enthalten ist. Das Alter bestimmt den  Schwierigkeitsgrad. Mit dem Erreichen des zehnten Lebensjahres bekommt man die erste und leichteste Aufgabe zugeteilt.

Mein Wohnviertel hat als Oberbegriff der Aufgaben „Animus“. Wir haben im Unterricht gelernt, dass es aus dem Lateinischen stammt und sich sowohl auf das Denken, als auch auf den Mut bezieht.  „Geist und Mut führt zu den besten Ergebnissen“ ist unser Motto.

Es gibt viele weitere Städte, mit jeweiligem Motto. Man hat uns erklärt, dass die Bevölkerung vom Land in die Großstädte gezogen ist, da dort mehr Arbeitsplätze vorhanden waren. Nun gibt es auf dem Land keine Dörfer mehr und die Megacitys sind durch Bahnstrecken miteinander verbunden.

Als ich das Haus meiner Familie betrete, werde ich mit großem Hallo empfangen. Ich habe vier kleinere Geschwister, zwei Schwestern, zwei Brüder. Lizzy, die älteste von ihnen, wird morgen ihre erste Aufgabe bekommen. Sie scheint sehr aufgeregt zu sein. Seit einer Woche kriecht sie nachts zu mir ins Bett, weil sie Albträume hat, in denen sie bestraft wird, da sie die Aufgabe nicht geschafft hat. Ich versichere ihr jedes Mal, dass man lediglich weniger Geld bekommt. Sie teilt sich ein Zimmer mit mir. Chris und Tiger, meine beiden Brüder teilen sich ebenso eins. Und meine jüngste Schwester, Alice, schläft noch bei meiner Mutter. Sie ist zwei Jahre alt. Mein Vater lebt in einem anderen Viertel, ich sehe ihn nur selten. Zur Begrüßung nimmt meine Mutter mich in den Arm und flüstert mir ins Ohr: „Fahren wir?“ Ich sehe sie verwirrt an, doch sie lächelt nur. Ach ja, Lizzys Geburtstag. „Ich muss vorher noch schnell meinen Schuh kleben, ich bin sofort da“, sage ich ihr.

Auf dem Weg zu meinem und Lizzys Zimmer kommt Tiger zu mir und hält eine Nacktschnecke auf dem Finger: „Lou, Lou!! Schau mal, was ich gefangen habe.“ Ich sehe ihn gespielt angewidert an, das freut ihn. Er mag es, wenn ich mich vor etwas ekele, das ihm nichts ausmacht.

Ich verschwinde hinter der Tür und setze mich an den Schreibtisch. Aus einer der obersten Schubladen aus dem Schrank neben dem Tisch ziehe ich eine Tube Sekundenkleber. Gott sei Dank ist meine Sohle nicht gerissen, sondern hat sich nur am Rand gelöst, dieses Problem habe ich schnell behoben.

Kurze Zeit später stehe ich mit meiner Mutter an der Bushaltestelle und warte auf den Bus. Auf die anderen Kinder passt unsere Nachbarin auf, sie selbst hat keine, allerdings sehr viele Katzen.

Meine Mutter hatte gestern Geburtstag und ihre Aufgabe bekommen. Doch sie möchte sie mir nicht sagen. Bisher weiß ich alle ihrer Aufgaben. Anscheinend muss diese besonders sein. Ich möchte sie fragen, weshalb sie es geheim hält, aber just in diesem Moment beginnt sie zu reden: „Hast du irgendeine Idee?“ Ich überlege, dennoch fällt mir nichts ein. Wir verdienen nicht besonders viel, da meine Mutter als Nebenjob in der Näherei arbeitet. Vom Verdienst der Aufgaben, kann man gerade so leben, und Näherin ist auch kein besonders gut bezahlter Job. Das schränkt die Auswahl natürlich ein.

Sie wird von unserem Viertel ein neues Set Kleidung bekommen, mit einigen T-Shirts, einer Jacke, ein paar Hosen, Unterwäsche und einem Paar Schuhe. Falls man sich in der neuesten Mode leiden möchte, muss man dies selbst finanzieren.

Ich schlage vor, dass wir zu dem Einkaufcenter im Norden des Viertelzentrums fahren könnten, dort gibt es viele Geschäfte.

Nach zehn Minuten trifft der Bus ein und wir setzen uns auf zwei Plätze. Die Fahrt bis ins Zentrum dauert etwa eine halbe Stunde und als wir ankommen, bin ich, wie immer, beeindruckt von der Größe der Gebäude. Der Bus hält exakt vor dem Shoppingcenter, wir müssen deshalb nicht lange laufen. „Ich habe eine Idee!“, raune ich meiner Mutter zu, „Du weißt schon, wegen des Geschenks. Wir könnten ihr ein Buch besorgen, sie lernt doch gerade das Lesen!“ Meine Mutter lächelt mich glücklich an. Sie hält es für eine gute Idee.

The TaskWo Geschichten leben. Entdecke jetzt