3. Fragen

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Das Erste, das ich sehe, als ich aufwache, ist ein grelles Licht. Sofort kneife ich meine Augen wieder zusammen und schlage die Hände davor. „Hey“, höre ich jemanden sagen, „Du kannst die Augen wieder aufmachen“. Vorsichtig nehme ich meine Hände von meinen Augen und öffne diese. Doch ich sehe – Nichts. Es ist wieder dunkel. Ich höre den Motor des Autos, wir müssen wohl noch unterwegs sein. Ich richte mich auf, worauf mir prompt schwindelig wird. Mein Kopf schmerzt ziemlich und mir schießen Tränen in die Augen. „Hallo?“, frage ich in die Dunkelheit. Ein mehrstimmiges: „Hallo, Lou!“ ertönt. Dann wieder Stille. „Was ist passiert?“, will ich wissen.

„Theodore hat vergessen, dass wenn ein Wagen anfährt, Dinge oft nicht bewegungslos liegenbleiben, besonders keine Kameras, wie sich herausgestellt hat. Theo, du Idiot! Sie hätte sich verdammt stark verletzen können!“ „Tut mir furchtbar leid, Lou!“, sagt Theo. „Ich lebe ja noch. Könnte mal jemand wieder das Licht anmachen?“, beruhige ich ihn. Die Stimme, die Theodore geschimpft hat, meint: „Debbie, unsere Taschenlampenkönigin, Licht bitte!“ „Jawohl, Meister“ Sofort füllt sich das Abteil mit Licht. Ich blinzele. Langsam erkenne ich die Gestalten. Fünf sind es. „Wer seid ihr?“, frage ich sie. Das Mädchen mit der Taschenlampe in der Hand stellt sich als Debora vor, ich soll sie allerdings Debbie nennen. „Ich bin Theo“, sagt ein großer Junge mit braunen Haaren und faszinierend grünen Augen. Er fährt sich mit einer Hand durchs Haar und lächelt mich an: „Geht es dir wieder besser?“ Ich nicke. Mit meiner Hand fahre ich mir über meinen Hinterkopf und taste nach der Stelle, an der mich die Kamera, die nun neben mir auf dem Boden liegt, getroffen hat. Sofort zucke ich zusammen. Eine schmerzende Beule hat sich gebildet. „Anscheinend doch dich so gut“, seufzt der Junge,der direkt vor mir sitzt. Er fängt an in einem Schrank hinter sich zu kramen.

Zum ersten Mal blicke ich mich richtig um. Wir sitzen immer noch in dem Abteil des Autos. Es sieht aus wie ein richtiger kleiner Raum. Die Jugendlichen sitzen rundherum an die Wand angelehnt. Ich bin noch immer an derselben Stelle, auf der ich in Ohnmacht gefallen bin. Exakt in der Mitte.  Schnell rutsche ich an die Wand, zwischen ein anderes Mädchen und neben Theo.  Ich lächle ihm kurz zu und blicke wieder zu dem Jungen, der noch in dem Schränkchen nach irgendetwas sucht. Doch er scheint fündig geworden zu sein und im nächsten Moment fliegt ein violettes Etwas auf mich zu. Reflexartig reiße ich die Hände vor den Kopf und im nächsten Moment habe ich das Ding in der Hand. Ein Kühlbeutel.  Dankend lächle ich ihn an und drücke mir den Beutel gegen den Kopf. 

Dann sehe ich das Mädchen zu meiner Linken an. „Und du bist?“, frage ich sie. „Razielle. Nenn mich Razie, dass tun sowieso alle“, stellt sie sich vor. Sie hat schulterlange, rotbraune Haare und grinst mich schief an. Dann blickt sie zu dem Jungen, der mir den Kühlbeutel gegeben hat. Er erwidert ihren Blick kurz, danach wendet er sich mir zu. „Das ist Champ“, er zeigt auf den Jungen zwischen Debbie und sich, „Eigentlich heißt er Constantin, aber erstens ist der Name viel zu lang und zweitens passt Champ einfach. Du wirst schon sehen“, er macht eine kurze Pause, „Und ich bin Laurence. Aber nenn mich bitte Rex. Laurence klingt zu geschwollen“, stellt er sich und seinen Nachbarn vor.

Rex hatte rote Haare, die leicht gelockt nach oben stehen. Er lehnt sich zurück und mustert mich. Ich lasse meinen Blick zu Champ gleiten. Seine dunkelbraunen Haare sind ziemlich kurz und hin und wieder schiebt er sich seine Brille zurecht.

„Was ist hier los? Seid ihr auch Soldaten?“, frage ich alle. Debbie antwortet mir: „Ja“, sie streicht sich mit der Hand die strohblonden Haare aus dem Gesicht, dann redet sie weiter, „Aber als erstes fahren wir in ein Camp. Da sollen wir ausgebildet werden.

„Wo kommt ihr her?“, will ich wissen und lehne mich gegen die Wand hinter mir. „Wir sind alle aus Paris. Um dich zu holen, mussten wir extra den Umweg über Rom nehmen. Warum die dich noch unbedingt mitnehmen wollten, wissen wir nicht. Wir sind jetzt auf dem Weg zum Meer“, antwortet Razie mir. Am Meer ist gerade Krieg, das hat mir zumindest Anna gesagt. Sollten wir nicht erst trainieren? Genau das frage ich sie dann auch. „An der Ostsee war Krieg. Im Moment nicht, allerdings würde das keinen Unterschied machen, wir fahren an die Nordsee“, erwidert Razie.  Ich nicke.

Danach herrscht Stille. Wir hören den Asphalt, der an den Reifen reibt, den Wind, der das Auto streicht. Jeder scheint in Gedanken versunken zu sein, so auch ich. Mich quälen hunderte Fragen, dennoch wage ich es nicht, die Stelle zu zerstören. Außerdem weiß ich nicht, ob ich die Antworten wirklich hören will. Meine Mutter sagte jedes Mal, wenn ich sie etwas fragte, das sie nicht beantworten wollte, dass es manchmal besser sei, nichts zu wissen. Ich habe es bis zum jetzigen Zeitpunkt nie verstanden. Nachdem was Anna mir erzählt hat, bekommt mein Bild von der perfekten Welt allmählich Risse. Wieso Krieg herrscht, konnte Anna mir nicht sagen. Langsam frage ich mich ob ich die Antwort überhaupt wissen will. Im Geschichtsunterricht haben wir sämtliche Kriege besprochen. Der Grund für den Ausbruch war meist so simpel, fast schon lächerlich.

Ich schweife mit meinen Gedanken zu Lizzy. Ich hoffe, sie wird nicht so naiv sein wie ich. Andererseits wünsche ich ihr nicht, dass sie all das erfährt. Obwohl ich kaum etwas weiß, quälen mich die Information, die ich habe. Ich möchte nicht, dass meiner Schwester so etwas zustößt. Während ich an Lizzy denke, spüre ich wie Tränen in meinen Augen aufsteigen. Ich beiße mir auf die Lippe. Ich darf nicht weinen. Nicht jetzt, nicht hier.

Wir fahren schier eine Ewigkeit. Draußen ist es längst dunkel. Champ, Rex und Debbie schlafen schon. Wir haben seit Stunden kein Wort mehr gewechselt. Plötzlich rutscht Razies Kopf auf meine Schulter. Sie scheint eingeschlafen zu sein. Ich schmunzele.

Nur Theo ist noch wach. „Kannst du auch nicht einschlafen?“, fragt er mich. Ich nicke. Inzwischen haben wir ein Fenster gefunden, frische Luft strömt in den Wagen. Der Vollmond malt Muster auf den Boden. „Ich vermisse meine Familie“, erkläre ich ihm. Er nickt und schaut zu Boden. „Was ist mit dir? Warum bist du noch wach?“, frage ich ihn. Er nestelt mit seinen Fingern, sein Blick gleitet fahrig über den Boden. „Ich vermisse meine Familie auch. Aber das ist sinnlos. Man sollte nichts vermissen, was man sowieso nicht wieder bekommt“, sagt er und sieht mich an. „Sind sie…. “, frage ich vorsichtig. Er nickt leicht. „Busunfall“, meint er. Mitleidig sehe ich ihn an: „Das tut mir Leid.“

„Muss es nicht. Ich sollte sie nicht vermissen. Ich sehe sie doch sowieso nicht mehr.“

„Das heißt doch nicht, dass du sie nicht vermissen darfst!“, sage ich. Er zuckt mit den Schultern. „Ja ich weiß. Aber es hat keinen Sinn.“ „Vieles hat keinen Sinn.“, meine ich, „außer Mathe und Physik.“ Er lacht leise. „Ja, der Scheiß macht Sinn.“

Langsam fühle ich, wie müde ich bin. Ich gähne. "Vielleicht schlafe ich doch ein", sage ich zu Theo. Ich spüre wie schwer mein Kopf wird. Er rutscht auf Theos Schulter und Im nächsten Moment bin ich, mit Razie auf meiner Schulter, eingeschlafen.

The TaskWo Geschichten leben. Entdecke jetzt