Manchmal erinnere ich mich daran, wie ich als kleines Kind, ich war ungefähr sieben, die Straße entlanggerannt bin. Mit dem klaren Ziel vor Augen, Andrew einzuholen. Ich wusste, dass ich das kaum schaffen könnte, er war schon immer schneller gewesen, dennoch versuchte ich es immer wieder. Wir wollten sehen, wie der Löwenzahn sich in Pusteblumen verwandelt hatte. Die Wiese am Ende der Straße, die einst für irgendein Training gedacht war, wurde nicht benutzt und begann zu verwildern. Und jedes Jahr wurde sie immer gelber. Als ich nach Andrew an diesem einen Tag ankam, war es unglaublich. Wir waren längere Zeit nicht dorthin gegangen. Und so war die Wiese zu diesem Zeitpunkt ein weißes Meer mit gelben Tupfern. Ich, mit meinem kindlichen Denken, registrierte nicht die Schönheit des Sonnenuntergangs. Ich schaute Andrew an und er rief: „Du kriegst mich nie!“ Dann stürmte er los. Und ich hinterher. Die Pusteblumen wirbelten einen weißen Staub empor, als wir hindurchliefen, und die Sonnenstrahlen tauchten alles in orange. Unser Lachen war noch entfernt zu hören, und so waren wir bald nicht mehr die einzigen Kinder die auf der Wiese tollten.
Wenn ich jetzt an diese Zeit zurück denke, komme ich mir sehr naiv vor. Dennoch muss ich mir eingestehen, dass solche Momente das Leben lebenswert machen. Und dann gibt es Momente, die man am liebsten vergessen würde.
Und so einen Moment durchlebe ich gerade. Ich halte die Geschenke meiner Mutter in meiner Hand, drei sind es, und halte es nicht mehr aus. Ich werde sie womöglich nie wieder sehen. Natürlich freue ich mich über das, was ich bekommen habe, aber zur gleichen Zeit bin ich traurig.
Es sind drei Dinge.
Eine Armbanduhr, ein Foto und ein Buch.
Ein Buch mit einem roten Einband und goldenem Titel. „Gedichte“.
Eine Träne tropft auf den Einband. Ich wische sie weg.
Ich betrachte die Uhr, sie ist silbern und auf ihrer Rückseite sind Worte eingraviert. Ich schließe sie um mein Handgelenk. Sie fühlt sich …richtig an. Ich frage mich, woher meine Mutter das Geld hatte, diese zu kaufen.
Dann nehme ich das Foto zur Hand. Meine Familie ist dort zu sehen, wir haben an diesem Tag einen Ausflug zum See gemacht. Es war schön gewesen. Ich beiße die Zähne zusammen und denke an das, was Andrew immer zu mir gesagt hatte, wenn ich traurig war: „Kopf hoch, Lucie, das Leben geht weiter. Egal was kommt. Nicht wahr?“ Ich habe nie den tieferen Sinn hinter den Worten verstanden, jetzt weiß ich, was er damit meint. Ich muss es schaffen, dass ich glücklich bin, egal unter welchen Bedingungen, denn das Leben ist es nicht wert, es mit Trauer zu verschwenden. Schließlich geht es weiter. Also lege ich das Foto auf den Nachttisch und nehme das Buch in die Hand. Es ist wunderschön. Gerade als ich es aufklappen möchte, kommt Razie in mein Zimmer gestürmt. Ihre rötlichen Haare fallen wild durcheinander. „Na los! Es ist endlich dunkel, das Lagerfeuer geht los!“ Sie fordert mich mit einem Nicken auf, ihr zu folgen und verschwindet. Als ich ihr hinterherrenne, frage ich mich, warum es hier so schön ist. Sollen Soldaten nicht zum Kämpfen ausgebildet werden?
Ich verbanne meine Gedanken fürs Erste. Als ich aus dem Haus trete, ist Razie verschwunden. Doch ein schwacher Lichtschein und entferntes Stimmengewirr führen mich. Ich muss ziemlich weit gehen, parallel zu einem Wald. Doch das Feuer ist schon von Weitem zu erkennen, so flach wie es hier ist. Und viele Menschen sind dort. Ich dachte es wären nur wir sechs hier, doch offensichtlich sind wir nicht die einzigen. Das Ganze scheint ein riesiges Fest zu sein. Ich fröstele ein wenig und schiebe mich durch die Menschenmasse zum Feuer. Dort angekommen halte ich meine Hände Richtung Flammen. Sofort wird mir ein wenig wärmer.
„Hey!“, plötzlich ertönt eine Stimme hinter mir. Ich drehe mich um und erkenne Debbie, die mich freundlich angrinst, „Da bist du ja endlich!“ „Ja, ich wusste nichts hiervon!“, versuche ich mich zu entschuldigen, doch das ist gar nicht nötig. Sie schüttelt bloß den Kopf und meint: „Macht doch nichts!“ und fügt murmelnd hinzu: „Was das mit Soldaten zu tun hat, keine Ahnung. Egal, hier! Probier‘ mal!“ Zögernd nehme ich ihr einen der Becher ab. Die warme Flüssigkeit riecht gut. Ein bisschen nach Weihnachten. Obwohl wir erst Herbstanfang haben. Ich muss grinsen, dann nehme ich einen Schluck. “Schmeckt gut“, sage ich zu Debbie. Sie nickt, lächelt wie immer, und fährt sich mit einer Hand durch ihre zerzausten, blonden Haare. Schweigend stehen wir eine Weile am Feuer, bis sie die Stille bricht. „Magst du Bücher?“ Ich weiß nicht. Gelesen habe ich nie überwiegend viel, dafür aber gerne. „Ja, schon. Du?“, frage ich deshalb. „Oh ja! Ich liebe es zu lesen! Wenn man von einer anderen Welt aufgesogen wird“, schwärmt sie. „Irgendwelche Empfehlungen? Falls wir mal Zeit bekommen zu lesen?“, will ich wissen. Sie muss kurz überlegen. Ihre Stirn kräuselt sich. „Moment!“, meint sie, dann verschwindet sie. Ich sehe mich um. In der Nähe liegt ein Baumstamm. Ich gehe dort hin und setze mich. Mit meinen Händen umklammere ich den warmen Becher und nippe daran.
Und dann setzt jemand meiner guten Laune ein Ende.
Dieser Jemand lässt sich mit Schwung neben mich fallen und meint: „Tja, so sieht man sich wieder. Wer hätte das gedacht?“ Ich kneife die Lippen zusammen. Sam. „Was habe ich dir das letzte Mal getan, dass du vor mir weglaufen musstest?“, fragt er. Ich antworte nicht. Ob er es weiß? Wohl eher nicht. Ich weiß meist auch nicht, wie ich jemanden mustere. Trotzdem. Sein Blick hatte definitiv etwas Seltsames. „Hey, redest du etwa nicht mit mir?“, meint er, sichtlich empört. Ich starre in die Flammen und versuche, ihn zu ignorieren. Er schnaubt. „So unfreundlich war ich auch nicht, oder?“, redet er weiter. Doch, das warst du, antworte ich ihm in Gedanken. Ich nehme im Augenwinkel wahr, wie er den Kopf hängen lässt, sein schwarzes Haar fällt ihm dabei in die Stirn. Leise sagt er: „Ich war ein Arsch“ Mir liegt es auf den Lippen, ,Selbsterkenntnis ist der Weg zur Besserung‘ zu sagen, doch irgendwie erscheint es mir gemein. Ich nicke schlicht. Er seufzt. Dann steht er auf und meint: „Kann ich dir als Entschuldigung noch einen Drink bringen?“ „Ja“, sage ich und ringe mir ein Lächeln ab. Vielleicht ist er ja nicht so schlimm. Er nimmt meinen Becher lächelt, zwinkert mir zu und geht. Ich schüttele den Kopf. Vielleicht ist er ja ganz nett. Aber weshalb war er bei unserem ersten Treffen so grausig?
„Hier!“ Atemlos streckt Debbie mir ein Buch entgegen. Ich runzele die Stirn. „Nun nimm schon! Und lies es!“, sagt sie auffordernd, lässt es in meinen Schoß fallen und geht wieder. Etwas verwirrt nehme ich das Buch in die Hand und streiche über den Einband. Er ist schön. Silberne Linien heben sich von einem matten Blau ab und verflechten sich in vollendeten Formen miteinander. Ich schlage das Buch auf und ein angenehmer Geruch zieht mir in die Nase. Es riecht wie in einer Bibliothek, nur schwächer.
Und es riecht nach etwas anderem. Ich schaue auf. Vor mir steht Sam und grinst. „Neues Buch?“ „Hmm“, antworte ich nicht sehr intelligent. Ich war ein wenig in den Satz vertieft gewesen. Von ihm muss wohl auch dieser Geruch kommen. Nach Kiefernnadeln und Waschpulver. Ich beiße mir in die Wange. Was denke ich da eigentlich? „Hier!“, er drückt mir das Getränk in die Hand. „Danke“, murmle ich. Er setzt sich weder neben mich. „Und wo kommst du her?“, fragt er und nimmt einen Schluck von seinem Getränk. „Rom. Du?“ „Ah Rom, war es schön dort?“, fragt er. „Naja" Ich schweige. Dann beginnt er wieder zu reden. „Ich, äh, hm“, sein Blick schweift unruhig über den Boden. „Ich bin von hier“, beendet er schließlich seinen Satz. „Aber warum warst du dann letztens in Rom?“ „Hm“, meint er. Was für eine ausführliche Antwort. Missbilligend sehe ich ihn an, doch er weicht meinem Blick aus. „Nur so“ Aha. Ich seufze. Das Gespräch ist irgendwie unangenehm. „Ich, ähm, muss noch wo hin“, versuche ich mich zu entschuldigen und eile davon. Am liebsten würde ich hier verschwinden. Zu viele Menschen, zu laute Musik. Ich halte nach bekannten Gesichtern Ausschau. Und schließlich finde ich Razie. „Hallo!“, begrüße ich sie. Sie lächelt mir zu. „Schön hier, nicht wahr?“, fragt sie. „Hm“
Ich lasse den Sand durch meine Finger gleiten. Hin und wieder schwappt eine Welle bis zu meinen Zehen. Am Feuer wurde es mir zu laut und so sitze ich nun etwas abseits. Das Buch liegt neben mir. Ich würde es gerne lesen, aber hier ist es ein wenig zu dunkel. Das Wasser glitzert. Ich atme die salzige Seeluft ein. Ich lege mich zurück und starre zu den Sternen hinauf. Sie sind so wunderschön. In der Stadt habe ich sie nie sehen können, da es dort zu hell gewesen ist. Und Sterne leuchten nur im Dunkeln.
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The Task
Science FictionIch habe meine Aufgabe erhalten. Und werde sie erfüllen. Aber nicht, weil ihr es meint, sondern weil ich es für richtig halte. Ihr mit euren dummen Gesetzen, eurer dummen Zerstörung. Das ist mein Leben. Und deshalb werde ich kämpfen. Als sie ihren...