Vorahnung

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Ich habe immer gedacht, wenn etwas Schlimmes passiert, etwas, das meine Welt verändert, stoppt irgendetwas. Die Welt um mich herum verlangsamt und läuft nur für mich weiter, so, als wenn sich dann alles nur noch um mich drehen würde. Aber das stimmt nicht.

 

Die Pausenglocke läutet. Wie unpassend. Warum läutet sie? Gerade passiert doch etwas… Ich sehe Tessa in meinem Augenwinkel leicht zusammenzucken. Dann reibt sie sich über die blutunterlaufenen Augen und schaut mich an. Der Stress scheint ihr zuzusetzen.

„Was meinst du, wie lange wir schon hier sind?“, frage ich sie um Ablenkung zu schaffen, vielleicht geht es ihr besser, wenn sie redet.

„Guck doch auf dein Handy…“

Ich leiste hier gerade 'ne kleine Notfall-Seelsorge für sie und dann ist sie nicht mal bereit, mir die Uhrzeit zu sagen? Aber ich rege mich nicht auf. Das wäre dumm.

„Ich habe keines“, gebe ich zu und erhalte einen ungläubigen Blick. Normalerweise hätte Tessa jetzt wohl irgendwas Blödes gesagt und ich warte schon richtig auf einen Kommentar, aber sie fischt in ihrer Jackentasche nach ihrem Handy, entsperrt es und entgegnet nüchtern: „Anderthalb Schulstunden“, bevor sie wieder die Decke anstiert. Ihr Handy liegt lose in der Hand, sie wirkt so kraftlos.

Meine Knöchel schmerzen, ich hocke schon zu lange und mein linkes Bein ist eingeschlafen. Also stehe ich auf.

„Denkst du nicht, dass es komisch ist?“, frage ich leise. Inzwischen habe ich es mir angewohnt, zu flüstern. Tessa schnaubt verächtlich: „Was genau meinst du?“

Der Platz, in dem wir beide sind, ist eng, zu eng, ich kann fast ihren Atem riechen, wenn sie spricht. Süßes Kaugummi und Zahnpasta.

„Na, keine Ahnung… Aber gibt es nicht immer sowas wie… Ein Sondereinsatzkommando? Das sieht man doch immer in den Nachrichten…“

Tessa räuspert sich und sieht mich erschrocken an. „Du denkst viel nach, oder?“, entgegnet sie erstaunt und ich kann es in ihrem Gesicht arbeiten sehen, während sie nachdenkt.

„Ja, vermutlich hast du recht“, beginnt sie „Aber vielleicht… Wie gehen die denn vor? Lauern vor der Schule, bis irgendwer rauskommt?“

„Eventuell warten sie auf eine Forderung von Ihm?“ Ich fröstle bei meinen eigenen Worten. Meine Handflächen sind schweißnass und auch auf meinen Armen entsteht eine Gänsehaut.

„Und wie erfahren die Polizisten von einer Forderung? Über die Lautsprecher hier in der Schule? Oder über Funk?“

Wieder versinke ich in meinen Gedanken und lasse erst meinen rechten, dann den linken Fuß kreisen, um sie aus ihrer Erstarrung zu wecken.

„Wenn Er etwas über die Lautsprecher gesagt hätte, würden wir es hier hören können“, sage ich und deute auf einen kleinen grauen Kasten über der Eingangstür der Toilettenräume. „Außerdem: Was sollten das für Forderungen sein? Geld? Gute Noten?“ Letzteres war natürlich ein Scherz. Ein ziemlich unlustiger. Was würde denn ein Schüler verlangen? Etwas, das wichtig genug ist, sein Leben und das anderer dafür aufs Spiel zu setzen? Irgendwie glaube ich nicht, dass Er es tut wegen irgendeiner Forderung.

„Und wenn er das Einsatzkommando gar nicht erpresst?“ Tessas Stimme ist nicht mehr als ein Raunen. „Warum handeln sie dann nicht?“

„Und wenn die Polizei gar nicht von dem hier weiß?“

„Quatsch. Die ersten Schüler müssten schon zu Hause sein, die Eltern würden etwas merken.“

„Stimmt… Außerdem hat man den Alarm bestimmt noch auf der Straße gehört.“ Ich erinnere mich an das markerschütternde Schrillen, dass einen sofort Kopfschmerzen beschert.

„Was, wenn“, fange ich an und erstarre. Nein, daran will ich nicht denken. Aber zu spät. Tessa hat mein Zögern bemerkt und hakt nach.

„Was, wenn was?“

„Nein…“ Ich will nicht darüber sprechen. Das macht das Ganze nur noch schlimmer.

Wenn was?“ Tessa wird lauter, es ist ihr Stress.

Tief atme ich ein, saure, verbrauchte Luft, und sage, den Blick zum Boden gewandt: „Was, wenn Er Geiseln hat?“

Amok -Mein Erster TagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt