Mein Ende

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Das älteste und stärkste Gefühl ist Angst, die älteste und stärkste Form
der Angst, ist die Angst vor dem Unbekannten. (H.P. Lovecraft)

Er steht vor der Tür zu den Toilettenräumen, ich weiß es. Ich weiß es in dem Moment als ich keine Schritte mehr höre. Und ich fürchte mich. Wie sollte es auch anders sein?

Tessa presst sich so dicht an die Wand, wie sie nur kann, wackelig, weil nur die Hälfte ihrer Schuhe auf dem kleinen Vorsprung Platz findet. Wir sagen nichts, kein einziges Sterbenswörtchen.

Mein Atmen geht schnell, meine Brust hebt und senkt sich im Takt zu meinem Herzschlag. Alles ist so ruhig. Mir kommt es fast vor wie eine Ewigkeit, in der nichts zu hören ist, außer unseren Herzen. Doch dann öffnet sich die Tür. Leise quietschend lässt sie ein kleines Bisschen frische Luft in die Toilettenräume.

Ich sehe, wie Tessa schwer schluckt und den Kopf Richtung Decke neigt. Ich presse meine Hände gegen die Fliesen in meinem Rücken und schließe die Augen, konzentriere mich ganz darauf, leise zu atmen.

Am liebsten würde ich gar keine Luft holen müssen.

Die Schritte nähern sich langsam unserer Tür.

Jetzt halte ich doch die Luft an. Er darf uns nicht hören. Bitte, bitte, er darf uns nicht hören.

Doch die Schritte entfernen sich wieder, sie schreiten einfach an dem Putzraum vorbei, weiter den Gang entlang. Ich atme aus, immer noch leise, aber erleichtert. Er hat uns nicht bemerkt!

Wasserplätschern. Dann das Geräusch von dem kaputten Seifenspender. Ich höre, wie der Typ pfeift, irgendeine Melodie aus dem Radio. Er rupft Papier aus dem kleinen Halter neben dem Waschbecken.

Mein Rücken versteift sich noch mehr, falls das überhaupt möglich ist. Was macht man nach dem Händewaschen? Genau. Man geht den Gang entlang zur Tür.

Die quietschenden Schritte setzen sich wieder in Bewegung, kommen ein zweites Mal näher. Bitte, er muss einfach nur wie vorher auch an dem Putzraum vorbei gehen. Einfach wieder raus und mich nicht wahrnehmen, nie wissen, dass ich existiere.

Und wieder nähert er sich und ich halte es kaum aus, am liebsten will ich einfach unsichtbar werden und bitte, bitte, lass ihn einfach weitergehen.

Er bleibt stehen.

Ich erschauere.

Seine Füße drehen sich auf dem gefliesten Boden, er schaut jetzt in Richtung Toilettenkabine. Die, durch die ich in den Putzraum geklettert bin.

Ich höre ihn zögern. Dann höre ich ein metallisches Klicken, als er seine Waffe zückt und entsichert. Eine Pistole. Er saugt scharf die Luft ein.

Er kann uns doch nicht sehen, oder? Woher sollte er wissen, dass wir hier sind? Er kann doch nur mutmaßen, oder? Oder?!

„Ich weiß, dass ihr hier seid.“

Eine Stimme, schneidend wie ein Messer. Und ich habe sie gehört, irgendwo entfernt auf den Schulfluren. Er weiß, dass wir hier sind. Er weiß es.

Langsam geht er einen Schritt weiter, dann noch einen. Er bleibt stehen, direkt vor dem Putzraum.

Tessa zittert und ich bemerke, dass ihr linker Fuß immer weiter von dem Wandvorsprung rutscht. Scheiße, denke ich. Entweder, sie lässt den Fuß auf den Boden sinken und läuft Gefahr, dass er sie sieht, oder sie rückt ihn wieder dichter an die Wand. Aber dann könnt er Tessa hören.

Vorsichtig hebt sie ihren Fuß an und schiebt ihn Millimeter für Millimeter zurück an die Wand.

 Ich halte den Atem an.

Dann setzt sie ihn ab. Ihr harter Absatz klickt auf den Fliesen, und ich höre fast im selben Moment einen Schuss.

Tessa keucht verwirrt und klappt auf dem Boden zusammen, als hätte man ihrem Körper alle Spannung genommen. Ein kleiner Schrei entfährt meinem Mund, doch ich halte ihn mir sofort zu.

Blut breitet sich auf dem Boden aus, rund um Tessas Kopf.

Ich zittere jetzt auch.

„Du hättest die Tür von der Toilette nicht abschließen dürfen“, erklärt der Mann auf der anderen Seite der Tür. Durch das gerade entstandene Loch im Holz kann ich den Ärmel seiner blauen Fließjacke erkennen.

Ich weiß, dass er zielt. Ich weiß, er zielt in meine Richtung, dann höre ich einen weiteren Schuss.

Die Kugel schlägt neben meinem Arm in der Wand und Fliesen zerspringen. Klirrend fallen sie zu Boden und mein Atmen geht schnell und unkontrolliert.

Er hat in das Türschloss geschossen und fasst nun mit den langen Fingern durch das Loch. Das ehemalige Schloss fällt herunter und er drückt die Tür auf.

Gleich wird er mich sehen, gleich wird er auch mich erschießen, gleich werde ich sterben.

Ich kann die Augen nicht schließen, wie sie es immer in den Filmen tun, ich muss ihn einfach ansehen, muss wissen, wer mein Leben verändert. Es beendet.

Er lächelt mich an, als er mein Gesicht sieht. Das gleiche, vertraute Lächeln, das ich seit so vielen Jahren kenne.

„Chris“, hauche ich, unfähig, mich zu bewegen.

„Hi, schön, dich zu sehen!“ Er lacht und kratzt sich mit dem Griff der Pistole am Kopf.

„Obwohl… Unter diesen Umständen… Eigentlich sollte ich dich hier nicht so stehen lassen. Du hast 'nen Schock und so was, weißt du?“ Wieder lacht Chris, als würden wir uns ganz normal in der Pause treffen, und mir fährt ein Schauder über den Rücken. Er hebt seine Waffe und zielt auf meinen Kopf, ein Auge hat er zugekniffen.

Mein Blick zuckt zwischen dem Lauf der Pistole und seinem Gesicht hin- und her. Er wird mich töten, obwohl wir Freunde waren? Obwohl wir uns schon so lange kennen?

„Sorry. Vielleicht hätten wir uns noch einmal irgendwie treffen sollen, findest du nicht? 'Nen Ausflug machen, keine Ahnung. Aber naja, so ist das eben…“

Ein schrilles Geräusch unterbricht ihn, gefolgt von einem Knistern aus den Lautsprechern.

„Hier spricht das Sondereinsatzkommando. Das Gebäude wurde umstellt. Es gibt keine Möglichkeit zur Flucht. Ergeben sie sich!“

Für einen Moment sind Chris die Gesichtszüge entglitten, ich schwöre es. Aber dann fängt er sich wieder und lässt seine Pistole sinken.

Ergibt er sich jetzt? Dann wird er nicht schießen! Er wird nicht schießen und ich lebe, lebe!

Mein Gesicht ist zu erleichtert, ich merke es erst in dem Moment, in dem er mir direkt in die Augen schaut und auf mich zukommt, langsam, bedacht. Chris' Pistole hängt in seiner Hand schlaff neben seinem Bein wie ein Einkaufsbeutel.

Ich presse mich weiter in die Wand und würde am liebsten ganz in ihr verschwinden. Mein Hinterkopf pocht vor Schmerz, weil ich ihn so heftig an die Fliesen drücke.

Jetzt steht Chris direkt vor mir und ich atme seine verbrauchte Luft ein.

Seine leere Hand hebt sich langsam, fast in Zeitlupe und er streicht mir über den Kopf, wie man es bei kleinen Kindern tut. Er sieht traurig aus, denke ich. Und trotzdem lächelt er schief.

„Es tut mir leid.“

Ich kann nichts sagen; wofür bitte entschuldigt er sich? Für das Unglück, das er verursacht?

„Es tut mir leid, aber es scheint, als wäre ich in einer recht ausweglosen Lage… Ich brauche dich.“

Noch bevor ich reagieren kann, wandert seine Hand in meinen Nacken und greift zu, kraftvoller, als es eigentlich nötig wäre. Dann sagt er:

„Ich brauche dich als Geisel.“

Und mein Leben zerbricht.

Amok -Mein Erster TagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt