Warum?

1.1K 93 9
                                        

Geiseln. Leute, die ich kenne. Leute, mit denen ich mich unterhalten habe.

Angst. Schluchzen. Versprechen.

Verzweiflung.

Warum geschieht das alles?

Ich will nicht. Ich kann nicht mehr ruhig bleiben. Und ich möchte es auch nicht mehr müssen. Ich will auch in mich versinken können, so wie Tessa, ich will meinetwegen heulen oder mich in den Arm nehmen können und hin- und her schaukeln.

Aber ich kann nicht. Nicht hier, nicht jetzt. Wie bitter.

Ich verzeihe mein Gesicht, als hätte ich Schmerzen.

Ich habe zu viel Angst.

Tessa ist erstaunlich ruhig, anders, als ich es von ihr erwartet hätte. Sie starrt wieder vor sich hin, aber es scheint, als würde in ihr ein ebenso großer Sturm toben, wie in mir.

Ich würde so gerne, dass das alles hier vorbei ist und ich nach Hause kann. Dann würde ich Mama mal wieder fröhlich begrüßen und nicht nur irgendwas in mich rein murmeln, wenn ich den Flur betrete. Nein, ich würde lächelnd in die Küche gehen, wo sie am Nachmittag fast immer ist, und sie in die Arme schließen; ihr einen Kuss auf die Wange drücken. Und ich würde heute mal nicht lernen, ich würde meinen PC anstellen und meine Lieblingsserie weitergucken, die Krimiserie aus England, die ich vor langer Zeit angefangen hab und so mag.

Und dann würde ich zum Telefon greifen und eine Nummer wählen, die ich früher so oft eingetippt habe: Chris'. Und dann würde ich ihn mit verstellter Stimme begrüßen, aber er wird mich erkennen und rufen: „Was denn, du? Dass es dich noch gibt! Schön, dich zu hören. Heftig heute gewesen, oder?“

Dann könnte ich ihm erzählen, wie ich mich auf 's Klo gerettet habe und mit Tessa in der Putzkabine war – Er mag sie nicht, genauso wenig, wie ich früher.

Früher.

Aber jetzt… Ich hole tief Luft und merke, wie ungleichmäßig mein Atem ist, fast zitternd, als wenn ich gleich umkippen würde. Aber mir ist nicht schwindelig, im Gegenteil, mein Kopf ist eigentlich erstaunlich klar, immer noch.

„Hey, Tessa“, raune ich.

„Mh?“

„Kennst du eigentlich Chris aus der Klasse über uns?“, beginne ich.

„Nein…“ Sie mustert wieder die Feuchtigkeitsflecken an den Deckenplatten, ich frage mich langsam, ob sie dort oben was anderes sieht, als ich, denn so spannend sind die nicht. Als ich mich schon einer Flasche Glasreiniger zuwende, der mir interessanter scheint als Tessa, überlegt sie doch noch mal: „Warte, ist das nicht der mit diesen dunkeln Lockenkopf? Der immer die alten Sneakers trägt?“ Ja, die Sneakers… Die hat er schon seit über zwei Jahren.

„Ja, genau. Die blauen. Ich glaube, ihr solltet euch mal unterhalten, morgen oder so. Vielleicht versteht ihr euch ja.“

Ich lächle etwas und auch Tessa scheint nicht ganz abgetan zu sein. Es wäre schön, wenn die beiden sich verstehen würden. Es wäre schön, wenn ich mich auch morgen noch mit Tessa unterhalten würde. Mit ihr treffen, schreiben, was weiß ich. Und mit Chris, natürlich. Er mit seinen lustigen Wuschelhaaren und dem schiefen Grinsen. Wärme steigt in mir auf, ein bisschen Geborgenheit.

Ein Knall, so laut wie hundert zerbrechende Gläser.

Ein Knall, so dicht.

Tessa stößt ein leises Quieken aus und schlägt fast im selben Moment die Hand vor den Mund. Atmet schwer.

Ich bin aufgesprungen, im Schreck, ohne, dass ich es gemerkt hätte.

Es war so nah. Und es war zweifelsohne ein Schuss. Von Ihm. Irgendwo hier, irgendwo auf dieser Etage, irgendwo in meiner Nähe. Ich will nicht, dass Er uns sieht oder hört oder überhaupt irgendwie bemerkt und ich bekomme richtig Angst, ja, fast Panik. Meine Hände zittern sogar vor Schreck. Tessa hingegen steht ganz ruhig an die Kabinenwand gelehnt.

Erst denke ich, wo Er wohl ist, dann, warum er überhaupt geschossen hat.

Bitte lass es nur einen Schreckschuss gewesen sein. Ein toter Körper fällt vor meinem inneren Auge leblos auf den Boden, ohne Gesicht, über ihm ein Mann mit Pistole und leeren Augen.

Schritte, waren das etwa Schritte, draußen auf dem Gang?!

Ich stehe still. Nicht mal meine Hände zittern noch. Fast kann man mich nicht hören, als ich flüstere: „Auf den Vorsprung.“ Aber Tessa versteht mich trotzdem, auch sie muss das verräterische Hallen draußen im Flur gehört haben, das leise Quietschen von feuchten Turnschuhen und das leichte Klacken, wenn man den Fuß aufsetzt.

Sie bewegt sich langsam, fast unmerklich, aber sicher, hebt einen Fuß und stellt ihn links von sich auf einen, etwa handhohen, Vorsprung an der Wand. Dann das gleiche bei mit dem anderen Bein.

Ohne Zweifel. Schritte, auf unsere Höhe der Etage, vielleicht sogar weniger als zwanzig Meter von den Toiletten entfernt. Mir läuft ein Schauder über den Rücken.

Tessa steht jetzt seitlich zu der Tür der Kabine, ihr Rücken lehnt an der Wand zum Flur.

‚Ich habe den ungünstigeren Platz‘, denke ich, weil ich direkt gegenüber der Tür stehe. Wenn man sie öffnet, sieht man mich sofort. Tessa hingegen wird hinter der geöffneten Tür verborgen sein.

Doch es ist zu spät, um sich neben sie zu gesellen. Denn die Schritte sind näher gekommen. Langsam und zögernd –oder, falls das überhaupt möglich ist- schlendernd. Wie bei einem Einkaufsbummel. Ich könnte kotzen, wenn ich nicht so angespannt wäre.

Dann halten sie inne.

Das

Kann

Doch

Nicht

Passieren!





Amok -Mein Erster TagWo Geschichten leben. Entdecke jetzt