Stimmen in ihrem Kopf
„Alles in Ordnung Jani?"
„Mhhm"
„Wirklich?"
„Ja"
Sophie versuchte mit ihrer besten Freundin Schritt zu halten, als sie sich auf dem Weg zu ihrer beiden Stammplatz befand. Die, im letzten Sommer knallgrün lackierte, Bank stand etwas abseits der restlichen Sitzgelegenheiten und wurde von dem alten Ginkgobaum beschattet.
Es war absolut klar, dass nicht alles in Ordnung war. Doch Sophie wusste nicht, wie sie am besten weiter nachbohren konnte. Janin zog sich immer mehr von ihr zurück, das bedrückte den Rotschopf. Der erste Klinikaufenthalt von Janin jährte sich bald, ihr Verhalten hatte sich kaum verändert. Wenn es nicht sogar schlimmer geworden ist.
An manchen Tagen erfuhr Sophie vom Gemütszustand der Zweiten. Egal ob Rückfall ins Ritzen, Stress mit den Eltern oder einem schönen Erlebnis. Und dann existierten Tage wie heute. Als ob man sich mit einer Puppe mit Janins Aussehen unterhielte. Diese Tage wurden immer häufiger, lagen wie ein schwerer Stein in Sophies Magen.
„Hast du Lust heute ins Kino zu gehen? Letze Woche ist doch Immenhof angelaufen, den wolltest du doch so gerne schauen", ein erneuter Versuch seitens Sophie eine Unterhaltung zu starten.
Doch die Reaktion darauf, ein Schulterzucken, ließ noch nicht einmal Hoffnung darauf aufkeimen. Innerlich sackte der Rotschopf in sich zusammen. Warum fand sie es ausgerechnet heute wieder so schwer an Janin ranzukommen? Immer häufiger wurden diese Puppentage, nur vage befand sich das letzte richtige Gespräch zwischen ihnen in ihrem Gedächtnis.
Wieder drehte Sophie ihren Kopf zu Janin, die nächste Frage lag ihr schon zwischen den Lippen, da erstarrte sie.
Tränen traten aus Janins Augen hervor und ihre Hände waren gegen ihre Ohren gepresst. Sie wirkte so zusammengekauert noch kleiner und zerbrechlicher, als sie es ohnehin schon war.
„Janin?", behutsam kniete sich Sophie vor ihre Freundin, bemüht Augenkontakt herzustellen. Unmöglich, wie sich herausstellte, denn die Kleinere starrte an ihre Brust. Oder durch ihre Brust hindurch, schoss es Sophie durch den Kopf.
Ein seltsamer Geschmack lag ihr auf der Zunge, als sie auf weiteres Nachfragen wieder keine Reaktion erhielt. Irgendwas musste sie doch tun? Der Zustand ihrer Freundin war doch nicht mehr normal.
Als diese auch noch zu wimmern anfing, lief Sophie ein Schauer über den Rücken. Sowas konnte nur einem Horrorfilm entsprungen sein. Wäre es Nacht und sie beide alleine, hätte der Rotschopf schon längst das Weite gesucht. Auch jetzt war die Sorge um Janin von Angst beschattet, fast überschattet.
Mit einem Mal blinkte in ihr ein Gedanke auf, wie eine Leuchtreklametafel, die um ihre Aufmerksamkeit schreit. Janin musste zu Frau Riolu, die wusste sicher, wie man damit umgehen kann.
„Lass uns zu Frau Riolu gehen, ja?", mit diesem Satz nahm Sophie ihre Freundin an den Schultern und stellte sie auf die Beine. Beinahe wäre sie zurückgeschreckt, als kein Fünkchen Gegenwehr kam. Janin war wirklich zu einer Puppe geworden.
Langsam leitete der Rotschopf seine Freundin zum Gebäude mit dem Büro der Sonderpädagogin. Sie versuchte dabei Janin etwas von dem Rest der Schüler abzuschirmen, denn noch wusste kaum jemand über die Depressionen der Kleineren Bescheid. Obwohl, dass konnte unmöglich etwas mit der Depression zu tun haben.
Mittlerweile fing Janin an richtig zu schluchzen und sog die Luft krampfhaft in sich hinein. Es war genauso wie bei Sophies Panikattacken, eine Hyperventiliation. Das veranlasste diese ihr Tempo zu erhöhen.
Was verursacht diesen Zustand, so etwas hatte der Rotschopf noch nie erlebt. Als ob Janin komplett von der Außenwelt abgeschnitten war.
Hastig klopfte Sophie an die Tür des Büros. Hoffentlich war Frau Riolu auch darin. Je länger sie mit Janin dort stand, desto größer wurde der Knoten in ihrem Magen. Eine Sekunde schien Stunden zu dauern.
Da wurde die Tür geöffnet. Im Gegensatz zu Sophie selber, schien die Pädagogin, die Situation sofort erkannt zu haben. Das ließ in dem Mädchen das Gefühl, etwas verpasst zu haben, aufsteigen.
"Setz' Janin hin. Ich rufe den Krankenwagen", Frau Riolu griff zum Telefon und rief den Notruf.
Was genau sie ins Telefon sprach, nahm Sophie nicht wirklich wahr, zu sehr war sie auf Janin fokussiert. Ihre Freundin war innerlich zerstört, noch schlimmer als Sophie sich in ihren Albträumen ausgemalt hatte. Ihr Blick lag die ganze Zeit auf dem, durch Schluchzern bebenden, zusammengekrümmten Körper.
Dadurch wurde auch sie zur Puppe, abgeschottet von der Außenwelt. Physisch anwesend, ihr Umfeld jedoch nicht wahrnehmbar. Vertieft in die eigenen Gedanken. Nicht mehr realisierend, was genau in den nächsten 20 Minuten ablief.
Sie kam erst wieder richtig zu sich, als die Sanitäter ihre Freundin aus dem Büro brachten.
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Stimmen im Kopf
Cerita PendekDie Welt kann von dem einen auf den anderen Moment auf den Kopf gestellt werden. Selbst mit Vorboten trifft es einem oft eiskalt. So ist es auch Sofie ergangen, als ein einziger Tag ihr Leben fortan prägt.