IV

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des Seemanns Furcht

   Mittlerweile segelte das Schiff des jungen Kapitäns schon volle zehn Tage auf der offenen See. Das Wetter war ihnen wohlgesonnen, doch die pralle Sonne verlangte dem alten Zauberer einiges an Kräften ab. Schweißperlen sammelten sich auf seiner Stirn und seine Glieder fühlten sich bleischwer an. Tief ein und aus schnaufend linste der Magier aus dem Fenster seiner Kajüte und betrachtete einen weiteren atemberaubenden Sonnenuntergang.

Als der letzte Lichtfunke am Horizont erloschen war und der Himmel stetig dunkler wurde, entzündete der Zauberer einige Kerzen in seiner kleinen Kajüte und kramte sein Tagebuch aus der Reisetasche. Der braune Ledereinband war von der jahrelangen Nutzung bereits weich geworden und besaß ein paar dunkle Flecken, die im Antlitz des hellen Kerzenscheins enthüllt wurden. Kyron tunkte seine schneeweiße Schreibfeder in Tinte und setzte zu Wort an.

„Zehn Tage und neun Nächte sind wir nun schon auf hoher See. Die Tage sind lang und brütend heiß, während in der Nacht eine angenehme, frische Brise aufzieht, die mir wohltut. Bisher gab es keine gefährlichen Zwischenfälle. Weit und breit gibt es nichts, als den unendlichen Ozean. Das eindringliche Rauschen des Meers begleitet mich Tag und Nacht. Ich habe mich sehr schnell wieder an dieses stetige Geräusch gewöhnt. Ich kann nicht mit größter Zuversicht sagen, wie lange es noch dauern wird, bis wir die Insel erreichen. Doch meinen Berechnungen zufolge sollte das Schiff mit dem Aufgehen des Neumonds an sein Ziel gelangen.

Der schwarze Nachthimmel ist besprenkelt mit tausenden und abertausenden funkelnden Sternen, die einzigartige Sternenbilder auf das Himmelszelt projizieren. Einige davon habe ich noch nie zuvor gesehen. Ich erkenne Drachen, Einhörner und kleine Delphine, die mich an exakt jene Tiere erinnern, welche heute fröhlich neben dem Schiff geschwommen sind. Die Kraft der Himmelskörper scheint hier eine außergewöhnliche Intensität zu besitzen, denn obwohl es Nacht ist, werden wir von einem mystischen Schein umhüllt.

Der strahlende Mond steht mittlerweile in voller Pracht über uns. Ich schaue ehrfürchtig zu dem prallen Nachtgestirn empor und sofort kommen mir die Erinnerungen von Sofus und meiner ersten Seefahrt in den Sinn. Damals war der Vollmond beinahe genauso überwältigend, wie an diesem Tag. Ob ich wohl heute erneut die Bekanntschaft mit einer Meernymphe schließen werde?"

Kaum hatte der Zauberer das letzte Wort zu Papier gebracht, wurde das Schiff durch etwas erschüttert. Die Spanten des Schiffes knorzten wehmütig und Kyron spürte einen eisigen Windzug, der ihm durch das Fenster entgegengeblasen kam, sodass es ihm eine Gänsehaut über die Haut jagte. Ein schauriges Getöse wurde angestimmt, woraufhin das Schiff ins Wanken geriet.

Mit einem misstrauisch verzogenen Gesicht eilte der Zauberer aus seiner Kammer, die Stiegen hinauf und marschierte schließlich eilig auf den jungen Kapitän zu. Merricks Augen glitten über das regsame Meer und den riesigen Mond, der eine unheimliche, rote Nuance angenommen hatte. Eine gespenstische Stille erfüllte die Luft, während der Himmel dunkle Wolken heraufbeschwor, die sich übereinander türmten und wie schwere Träume schleichend über das Firmament zogen.

„Was hat es mit diesem plötzlichen Wetterumschwung auf sich, Kyron?", stimmte Merrick perplex an und starrte auf den Mond, über den heimlich und sacht einige Wolkenfähnchen hinweg zogen. „Das ist doch nicht normal", säuselte er wimmernd zu sich selbst und klang dabei sichtlich verstört.

Auch Kyrons Gesicht lief kreideweiß an, sodass er einem Gespenst gar nicht mehr so unähnlich sah. Ein unheimlicher, milchiger Nebel schlängelte sich um das Schiff und legte sich über die Wasseroberfläche. Man konnte nur noch schwer erkennen, was sich unter der Wasseroberfläche verbarg. Diese Tatsache schürte Merricks Nervosität.

Der wissende Blick des alten Zauberers lag auf Merrick und seine Lippen kräuselten sich nachdenklich. „Ich habe so ein Gefühl, was das Wetter betrifft", setzte der Zauberer zu Wort an und steuerte auf das Geländer des Schiffs zu. „Dies ist das Gebiet der Nymphen", murmelte Kyron zögerlich, als ein lautes Platschen seine Aufmerksamkeit erregte.

Keine Sekunde später sprang eine Nymphe aus dem Wasser und tauchte kurz darauf wieder in die pechschwarze Tiefe, die teilweise von dem hellen Dunst verdeckt wurde. Dennoch erspähte der Zauberer einen Schwanz. Der lange Fischschwanz der Nereide glitzerte in Regenbogenfarben, wodurch sich wunderschöne Lichtspiegelungen auf dem Wasser bildeten. Ehe sich der Zauberer und Merrick versahen, tauchten mindestens zwanzig Nymphen an die Meeresoberfläche und beobachteten die Matrosen interessiert.

„Seht nur!", trällerte eine der Nymphen. „Es ist Kyron!" Sie streckte ihre Hände aus dem Wasser und deutete elanvoll auf den alten Zauberer.

Merrick, der unmittelbar neben dem Zauberer stand, klapperte angsterfüllt mit den Zähnen und rührte kaum einen Muskel. Der junge Kapitän hörte in der Vergangenheit oft Seemannsgeschichten über Nymphen. Sie galten als Meisterinnen der Verführung und Täuschung. Man erzählte sich unter den Matrosen, dass sie Seemänner von ihren Schiffen zerrten, an den Grund des Meeres brachten und dort bei lebendigem Leibe fraßen.

Als wäre der Blondschopf in seiner Position gefangen, stemmte er seine Hände verzweifelt gegen das Steuerrad des Schiffs und wandte sich kaum merklich dem Magier zu. „Freundinnen von dir?", fiepte der Bursche mit einem angespannten Lächeln und verzog sein Gesicht zu einer hysterischen Grimasse.

„Für einen so frechen, jungen Mann auf Abenteuerreise lässt du dich aber rasch aus der Reserve locken." Kyron funkelte sein Gegenüber mit einem rätselhaften Ausdruck an und schmunzelte dabei leicht.

„Das sind Nymphen!", flüsterte er dem Zauberer eindringlich zu. „Die fressen freche, junge Männer wie mich nur so zum Spaß", teilte er dem graubärtigen Zauberer aufgewühlt mit, als wäre dies eine unausgesprochene Tatsache. 

Kyron hob eine Augenbraue und schüttelte den Kopf. „Solcherlei Vorurteile sind die Vernunft der Narren."

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